Die bayerische Opposition zeigt sich empört, dass Ministerpräsident Markus Söder (CSU) in der Affäre um ein neonazistisches Flugblatt an Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) festhält. "Taktik geht bei Markus Söder vor Haltung", sagte Grünen-Fraktionschef Ludwig Hartmann am Sonntag. "Er hat heute einen schlechten Deal für unser schönes Bayern gemacht." Denn er toleriere nun weiter einen Vize-Ministerpräsidenten, "an dessen demokratischer Gesinnung Zweifel bestehen". SPD-Vorsitzender Florian von Brunn nannte Aiwanger "Schande Bayerns". Dass die CSU unter Markus Söder "einen aktiven Rechtspopulisten und früher auch rechtsradikal tätigen Aktivisten als Stellvertreter in der Regierung akzeptiert, ist ein negativer Höhepunkt in der Geschichte von Nachkriegsdeutschland".
Aiwangers Antworten auf Söders 25 Fragen überzeugten ihn nicht, teilte auch FDP-Fraktionschef Martin Hagen mit. Alles, was der Minister künftig sage und tue, werde nun auf den Regierungschef selbst zurückfallen. "Ich bin gespannt, wie sehr Hubert Aiwanger diesen Freifahrtschein ausreizen wird." Für Hagen sind nicht die Vorgänge aus Aiwangers Schulzeit entscheidend, "sondern sein heutiger Umgang damit. Statt Aufrichtigkeit und Reue erleben wir Erinnerungslücken und trotzige Medienschelte". Die Spitzenkandidatin der AfD, Katrin Ebner-Steiner, sagte dem BR, die Entscheidung sei absehbar gewesen. "Ohne Freie Wähler als Mehrheitsbeschaffer ist Söder machtlos."
Antisemitisches Flugblatt:Söder lässt Aiwanger im Amt
Zwar hält Bayerns Ministerpräsident nicht alle Antworten seines Vizes zur Flugblatt-Affäre für befriedigend. Trotzdem darf er im Kabinett bleiben. Zugleich rät Söder ihm zu "Reue und Demut". Aiwanger erklärt, die "Schmutzkampagne" gegen ihn sei gescheitert.
Skeptische Reaktionen kamen aus der jüdischen Gemeinschaft. Söders Entscheidung sei "politisch zu akzeptieren", schrieb die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, in einer Stellungnahme. "Inwieweit es Hubert Aiwanger nun gelingen wird, die Vorwürfe, die noch im Raum stehen, mit Worten und Taten zu entkräften, wird sich dabei zeigen. Er muss Vertrauen wiederherstellen und deutlich machen, dass seine Aktionen demokratisch und rechtlich gefestigt sind. Die Türen der jüdischen Gemeinschaft waren für ihn immer offen." Der Süddeutschen Zeitung könne man "keinen Vorwurf machen, wenn sie drängende Themen, die an sie herangetragen werden, an die Öffentlichkeit bringt", erklärte Knobloch. Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, rügte Aiwangers Umgang mit den Vorwürfen. Er legte dem FW-Politiker nicht nur das Gespräch mit den jüdischen Gemeinden, sondern auch den Besuch einer Gedenkstätte nahe, etwa in Dachau.
FW-Fraktionschef Florian Streibl verwies dagegen erneut darauf, dass sich Aiwangers Bruder als Urheber des Pamphlets aus Schulzeiten zu erkennen gegeben habe. "Wir sind der Auffassung, dass Hubert Aiwanger für das unverantwortliche und vollkommen inakzeptable Handeln eines Familienmitglieds vor mehr als drei Jahrzehnten keinerlei politische Verantwortung trägt." Wer ihn kenne, wisse, dass Hubert Aiwanger "jegliche Form von Antisemitismus strikt ablehnt". Die Bayern-Koalition könne stabil weiterarbeiten. Fabian Mehring, der parlamentarische Geschäftsführer der FW, warnte auf der Plattform "X", früher Twitter: "Wer jetzt weiter auf Hubert eintritt, verstärkt die gewaltige Welle der Solidarisierung, die seit Tagen durch Bayern schwappt!"
Aus der CSU kamen am Sonntag nach Söders Pressekonferenz indes eher verhaltene Reaktionen. Fraktionschef Thomas Kreuzer nannte die Entscheidung "richtig und gut abgewogen", eine Entlassung des Ministers sei "nicht angezeigt, obwohl Aiwangers Reaktion auf die Vorfälle und sein Krisenmanagement völlig missglückt sind". Kreuzers Rat ist, dass nun auch von Aiwangers Seite "in der öffentlichen Diskussion und bei Wahlkampfauftritten die Angelegenheit deeskaliert werden sollte". Bayerns Antisemitismusbeauftragter und früherer CSU-Kultusminister Ludwig Spaenle respektierte Söders "Gesamtabwägung". Aiwanger habe sich mit seiner Reaktion auf die Vorwürfe "lange uneinsichtig gezeigt und ist seiner Vorbildfunktion als Staatsminister nicht gerecht geworden". Er sei aufgefordert, so Spaenle, "mit seinem Handeln dem von ihm herbeigeführten Schaden entgegenzuwirken".
Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU) kritisierte ebenfalls Aiwangers Krisenkommunikation, diese habe "zu dieser unsäglichen Hängepartie geführt, die Bayern insgesamt geschadet hat". Dass Aiwanger im Juni bei einer Demo in Erding gesagt hatte, nun müsse sich die schweigende Mehrheit die "Demokratie zurückholen", sei "auch nicht gerade hilfreich für eine Einordnung der Geschehnisse von vor 36 Jahren" gewesen. CSU-Generalsekretär Martin Huber sagte, Söder habe "in seiner souveränen Stellungnahme deutlich gemacht, dass wir auch in Zukunft eine stabile bürgerliche Regierung für Bayern wollen". Mit dem Zusatz: "Dabei kommt es besonders auf den Ministerpräsidenten an."
Söder habe "aus schlichtem Machtkalkül" so gehandelt, tadelte dagegen Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), doch der Umgang mit Antisemitismus dürfe keine taktische Frage sein. Grünen-Bundeschefin Ricarda Lang teilte mit, Aiwanger "inszeniert sich als Opfer und übernimmt keine Verantwortung" - mit "Bürgerlichkeit und Anstand" habe das nichts zu tun. Die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments Katharina Barley (SPD) kommentierte: "Im Rückblick wird die Trumpisierung der deutschen Politik nicht mit der AfD verbunden werden. Sondern mit einem ignoranten, skrupellosen Provinzpolitiker und einem schwachen konservativen Ministerpräsidenten."
Für Donnerstag haben Grüne, SPD und FDP eine Sondersitzung des Landtags beantragt, den Zwischenausschuss mit 51 Mitgliedern. Dieser soll auch nach Söders Erklärung stattfinden. Aiwanger ist indes, wie die Staatsregierung insgesamt, dort kein reguläres Mitglied. Völlig offen ist, ob er erscheint oder sich gar befragen ließe. Eine Herbei-Zitierung bräuchte wohl eine Mehrheit, also auch Stimmen der CSU. Zuvor aber dürfte an diesem Montag die Causa Aiwanger das Thema auf dem Gillamoos sein. Beim Volksfest im niederbayerischen Abensberg gibt es wieder den traditionellen politischen Schlagabtausch, mit den bayerischen Spitzenkandidaten und überregionalen Gästen wie CDU-Chef Friedrich Merz. Bei den FW steht die Rede von Hubert Aiwanger im Mittelpunkt.