Das Politische Buch:Der Genozid der anderen

Lesezeit: 4 min

Trauer um die Toten:die Völkermord-Gedenkstätte in Potočari in der Nähe von Srebrenica im Jahr 2021. (Foto: Armin Durgut/Imago)

Der Historiker Andrew I. Port beleuchtet in einer famosen Studie, was Deutsche nach dem Holocaust unter "Nie wieder" verstanden und wie sie auf Massengewalt in Kambodscha, Bosnien und Ruanda blickten. Und wie aus einem juristischen Tatbestand eine Metapher für transnationale Moralpolitik wurde.

Rezension von Annette Weinke

In diesen Tagen erinnern die Vereinten Nationen an das Jubiläum der Genozid-Konvention. Am 9. Dezember war es genau 75 Jahre her, dass sich die Staatengemeinschaft auf Vorschlag des polnisch-amerikanischen Völkerrechtlers und Holocaust-Überlebenden Raphael Lemkin dazu entschloss, die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes als bindendes internationales Recht anzuerkennen. Die Wahrnehmung des Genozids als schwerstes aller internationalen Verbrechen ("crime of all crimes") trug dazu bei, dass sich der Begriff frühzeitig von seiner ursprünglichen juristischen Bedeutung ablöste. Im antagonistischen Klima des Kalten Kriegs und der beginnenden Entkolonisierung entwickelte er ein starkes Eigenleben. Völkermord wurde während der folgenden vier Jahrzehnte in erster Linie im Lager des politischen Systemgegners, nicht aber in den eigenen Reihen verortet.

Obwohl die Entwicklung des Genozid-Begriffs unauflösbar mit der nationalsozialistischen Gewaltgeschichte und dem Judenmord verwoben ist, mit dessen Folgen sich beide deutsche Teilstaaten und ab 1990 auch das vereinte Deutschland auseinandersetzen mussten, hat die Zeitgeschichte dem Phänomen bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Mit seiner bravourösen, bisher nur auf Englisch vorliegenden Studie "Never Again" schlägt der in Detroit lehrende Historiker Andrew I. Port, ein Experte zur DDR-Geschichte, nun nicht nur eine Brücke zwischen der Entstehung einer holocaustbezogenen Erinnerungskultur und einer Geschichte des Humanitarismus vor und nach dem Mauerfall. Vielmehr greift sein Buch auch ein aktuelles Problem des gesellschaftlichen Umgangs mit Massengewalt in weit entfernten Regionen auf, das nicht zuletzt aufgrund der jüngeren weltpolitischen Entwicklungen mehr denn je einer kompetenten Einordnung durch die Fachwissenschaften bedarf.

Der Begriff wird zunehmend inflationär gebraucht

So unterstreichen die beiden Bundestagserklärungen zum "Holodomor" und zum Völkermord an den Jesiden ebenso wie der jüngste Schlagabtausch deutscher und amerikanischer Public Intellectuals anlässlich des Gaza-Kriegs, dass sich der Genozid-Begriff als Kernmetapher einer transnationalen Moralpolitik etabliert hat. Der zunehmend inflationäre Gebrauch zeichnet sich dadurch aus, dass er weniger auf konkrete Rechtsfolgen als auf die appellativ-suggestiv wirkende Mobilisierung von Politik und Öffentlichkeit zielt und gerade dadurch starke Eigendynamiken und unbeabsichtigte Nebeneffekte entfalten kann.

Erinnerung an die Mordopfer: das Holocaust-Mahnmal in Berlin. (Foto: Carsten Koall/dpa)

Ports Untersuchung zum außen- und geschichtspolitischen Umgang mit Völkermorden in der Zeit nach 1945 setzt sich aus zwei Hauptteilen zusammen. Während der erste Teil die Geschichte aus der Perspektive des geteilten Deutschlands erzählt, behandelt der zweite die Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung. Obwohl politische Massengewalt auch nach dem Zweiten Weltkrieg ein Dauerphänomen der internationalen Staatenwelt blieb und einige Fälle die Kriterien der UN-Konvention vollständig oder zumindest teilweise zu erfüllen schienen, schafften es jene nur äußerst selten in die Schlagzeilen der Presse. Einer der wenigen Ausnahmefälle, der seit Ende der Siebzigerjahre auch mehr und mehr die deutsche Außenpolitik, kritische Medienvertreter und Nichtregierungsorganisationen beschäftigte, waren die killing fields der Roten Khmer.

Nur wenige warnten vor einem neuen "Auschwitz"

Zwar war der Blick, anders als in den frühen Fünfzigerjahren, als die Westdeutschen den Völkermordparagrafen in ihr Strafgesetzbuch aufgenommen hatten, nach dem deutsch-deutschen UN-Beitritt von 1973 nicht mehr länger auf Europa beschränkt. Trotzdem blieben Ansätze, die Massenmorde in Südostasien als Genozide einzustufen, bis Ende der Siebziger insgesamt eher selten. Eine der wenigen warnenden Stimmen stammte von Walther Marschall von Bieberstein, ehemaliger Botschafter in Phnom Penh, der die Geschehnisse im Land schon 1976 mit "Auschwitz" verglich und dadurch vergeblich eine Sensibilisierung der deutschen Außenpolitik zu erreichen suchte.

Andrew I. Port, Never Again. Germans and Genocide after the Holocaust. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts/London, 2023. 416 Seiten, 39 Euro. (Foto: Harvard University Press)

Wie Port hervorhebt, leitete die Ausstrahlung der Fernsehserie "Holocaust" insofern einen allmählichen Bewusstseinswandel ein, als sich immer mehr Politiker und Journalisten einer Sprache bedienten, die Analogien zum Judenmord evozierte. Die sich damals entwickelnde Rhetorik der Superlative, in der überraschend oft das Argument der "Präzedenzlosigkeit" vorkam, war laut Port weniger dem Versuch geschuldet, deutsche Verbrechen zu relativieren. Vielmehr habe besonders im Lager der politischen Linken ein Gefühl der Erschütterung vorgeherrscht. Nachdem man entsprechende Warnungen jahrelang ignoriert oder kleingeredet hatte, schwang in der Bezugnahme auf das Schicksal der Juden immer auch eine Portion von Selbstkritik mit. Im Vergleich dazu fielen die Reaktionen im konservativen und rechten Lager deutlich selbstbewusster aus. Während Vertreter der Landsmannschaften die Massenmorde in Indochina zum Anlass nahmen, um die SPD/FDP-geführte Bundesregierung zu einer aktiveren Flüchtlingspolitik anzuhalten, ordnete der in West-Berlin lehrende Historiker Ernst Nolte die Taten der Roten Khmer bereits 1980 in eine lange Chronologie "asiatischer" Vernichtungs- und Auslöschungskampagnen ein, die angeblich hauptsächlich von der Linken initiiert worden seien. Ports Buch macht somit deutlich, dass die massive deutsche Unterstützung für Kambodscha auf beiden Seiten der Mauer auch Ausdruck einer sich pluralisierenden Erinnerungslandschaft war.

Gedenken an die Ermordeten: Erinnerungsstätte in Ruanda an eines von zahllosen Massakern in der Ntarama Catholic Church in der Nähe von Kigali. (Foto: tephen Morrison/dpa)

Der zweite Teil des Buchs beschäftigt sich ausführlich mit den deutschen Reaktionen auf die Völkermorde im früheren Jugoslawien und in Ruanda. Obwohl beide Länder enge Bezüge zur deutschen Geschichte aufwiesen - so war Ruanda bis kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs Teil der deutschen Kolonie Ostafrika gewesen, während das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg Jugoslawien überfallen und besetzt hatte - wurden die Gewaltvorkommnisse dennoch aus anderen Perspektiven und mit anderen Schwerpunktsetzungen diskutiert. Ein entscheidender Unterschied im Vergleich zu den früheren Ereignissen in Kambodscha war, dass die Medienberichterstattung im Fall Bosnien frühzeitig von "ethnischen Säuberungen" und anderen Gräueltaten sprach. Auch in bildpolitischer Hinsicht waren Parallelisierungen zwischen NS-Vernichtungslagern und serbischen Lagern üblich.

Ein alltagssprachliches Genozid-Konzept erleichterte die Öffnung

Der große Mehrwert von Ports empirisch dichter Studie liegt vor allem darin, dass sie ein Scharnier bildet, um die lange und komplizierte Geschichte der deutschen Annäherung an eine globalisierte Holocaust-Erinnerung und das Völkerstrafrecht besser zu verstehen. Erstens kam die schrittweise Annäherung zustande, ohne dass es zu einer mehr als oberflächlichen Auseinandersetzung mit dem Genozid-Begriff gekommen wäre. Zweitens wurde die allmähliche erinnerungskulturelle Öffnung gegenüber dem Judenmord dadurch erleichtert, dass ein alltagssprachliches Genozid-Konzept quer durch alle Parteien und politischen Milieus verwendet wurde. Dabei diente der Holocaust regelmäßig als Sonde und Signalbegriff, um für schwere Menschlichkeitsverbrechen im Ausland zu sensibilisieren. Drittens argumentiert der Autor in seinem pointierten Schlusswort, dass man für die Kritik an einer negativen Kehrseite der deutschen Vergangenheitsbewältigung, die koloniale Stereotype und rassistische Vorurteile reproduziert, sowohl vor als auch nach 1989 Anhaltspunkte finden kann.

Annette Weinke lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusDas Politische Buch
:Als die Deutschen wieder "gut" sein wollten

Frank Trentmanns monumentale, 80 Jahre umfassende Moralgeschichte folgt zahllosen Menschen zwischen Selbstrechtfertigung und Selbstvergewisserung . Und zeigt, wie ihnen immer wieder die komplexe Realität im Wege stand.

Rezension von Frank Biess

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: