Tagung zum Holocaust-Gedenken:Subtiler Selbstbetrug 

Lesezeit: 4 min

Ein Kind sitzt am Vorabend des Internationalen Tags des Gedenkens an die Opfer des Holocaust auf einer Stele des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin. (Foto: Christoph Soeder/dpa)

Woran krankt der deutsche Diskurs um die richtige Erinnerung an NS- und Kolonialverbrechen? Eine überfällige Tagung in Berlin.

Von Jens-Christian Rabe

Die intellektuelle Republik lässt sich auch in den Zwanzigerjahren des 21. Jahrhunderts von sehr wenig so in Aufruhr bringen wie von der Infragestellung der Singularität des Holocaust. In Zeiten, in denen nicht nur antisemitische Übergriffe zunehmen, sondern auch die letzten Zeitzeugen sterben, gibt es dafür ja auch immer noch zu viele gute Gründe. Der aktuelle "Historikerstreit 2.0" ist entsprechend längst nicht ausgefochten: Darin wird die These nicht von rechts - wie im ersten Historikerstreit der Achtziger - sondern von links herausgefordert, also von Vertretern der Postcolonial Studies, die ihn vor allem als Fortsetzung der Kolonialverbrechen des Westens sehen wollen.

Die Fronten sind allerdings nicht einfach nur verhärtet. Man hatte zuletzt vielmehr den Eindruck, als seien deren Stile und Perspektiven so grundlegend verschieden, dass sich die Streitenden nicht einmal mehr missverstehen.

In dieser Lage einen Schritt zurückzutreten und eine Konferenz dazu zu veranstalten, wie die Debatte künftig eigentlich geführt werden muss, erschien entsprechend überfällig. Aber das heißt ja nicht viel, wenn nicht irgendwer die Initiative ergreift. Der Frankfurter S.-Fischer-Verlag hat es glücklicherweise getan. Am Donnerstag trafen sich einige der profiliertesten Köpfe der Debatte im Berliner Magnus-Haus am Kupfergraben, um genau darüber zu sprechen.

Und mit der Eingangsfrage von Moderatorin Shelly Kupferberg war die Runde dann auch gleich spürbar auf Temperatur: Was davon zu halten sei, dass der Bundestag zum Holocaust-Gedenktag am Freitag erstmals der queeren Opfer des Nationalsozialismus gedenkt. Geht das? Was ist mit den Jüdinnen und Juden, die doch die überwältigende Mehrheit der Opfer waren?

Gesellschaftliche Gedenkkultur und offizielle Erinnerungspolitik würden zu oft vermischt, sagte Meron Mendel

Ganz im Geist des Tages nahm Meron Mendel, Professor für Soziale Arbeit und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, die Provokation aber nicht an, sondern setzte den Ton mit dem Hinweis auf den Unterschied zwischen gesellschaftlicher Gedenkkultur und offizieller Erinnerungspolitik. Beides werde in der Debatte zu oft vermischt, was Opferkonkurrenz-Situationen erzeuge und so eine Schärfe, die etwa auch die absurde Folge habe, dass es kaum möglich sei, wirklich kontroverse Positionen direkt nebeneinanderzustellen, wie es etwa in dem neuen, von ihm mit herausgegebenen Buch "Frenemies" versucht wurde. Zu viele fürchteten sich davor, sich schon allein damit zu schaden, dass ihre Ansichten in vermeintlich falscher Gesellschaft stehen könnten. Sein Verdikt: "Die deutsche Diskussionskultur ist krank."

Das wollte der im Publikum sitzende Historiker Michael Wildt so nicht stehen lassen: "Ich finde nicht schlimm, dass die Debatte scharf geführt wird." Dass es ein Problem sei, wenn der Staat nicht ausreichend aus der Debatte rausgehalten werde, sah er jedoch wie Mendel. Man fragte sich nur, wie das bei diesem Thema genau gehen soll, bei dem die offizielle Erinnerungspolitik zum Beispiel nicht ohne Einfluss auf die Verteilung von Forschungsgeldern ist. Eine bestürzende Folge der Situation schilderte auch die Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung Stefanie Schüler-Springorum: Wirklich kontroverse Diskussionen zur Debatte ließen sich an ihrem Haus derzeit eigentlich nur noch hinter verschlossenen Türen führen.

Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. (Foto: Wolfgang Kumm/picture alliance/dpa)

Wie konnte es so weit kommen? Sicher nicht vollkommen verkehrt dürfte Mendels Beobachtung sein, dass den deutschen Erinnerungsdiskurs eine kleine, aber folgenschwere Deutungsverschiebung auszeichne. Eine Art subtiler Selbstbetrug. Im Zentrum stehe nicht mehr der Akt der Erinnerung selbst, sondern die allzu selbstgefällige Überzeugung, wie gut man doch aufarbeite. Aber ob deshalb, wie er mit einem Augenzwinkern forderte, "die ganze deutsche Gesellschaft auf die Couch" muss?

Womöglich reichte es fürs Erste schon, wie Stefanie Schüler-Springorum anmerkte, wenn endlich ernsthaft damit begonnen werde, auch die Zeit nach 1945 in den Blick zu nehmen. Wer waren damals die Träger der neuen Ordnung? Wer wurde weiter ausgegrenzt? All das, so Schüler-Springorum, spiele in der Erinnerungskultur bislang eine viel zu unbedeutende Rolle. Alltägliche Geschichten darüber etwa, sagte Shelly Kupferberg, wie es war, als deutsche Juden nach dem Krieg ihre Möbel in den Wohnungen der alten Nachbarn erblickten und sie nur mit Polizeischutz zurückbekamen - wenn er ihnen gewährt wurde. In jüdischen deutschen Familien gehöre so etwas ganz selbstverständlich zur Erinnerung. Ein nicht-jüdisches deutsches Publikum heute höre solche Dinge oft zum allerersten Mal.

Auf der Seite der Nachfahren der Täter ist noch viel Unbewältigtes im Spiel

Nun ist es keine Überraschung, dass die Erinnerung an das Unrecht, das eine Familie erlitten hat, einfacher ist als die Erinnerung an das Unrecht, das die eigenen Vorfahren begangen haben. Eine Aufgabe, der sich intensiver gewidmet werden müsste, ist es dadurch aber nur umso mehr, das wurde an diesem Tag überdeutlich. Der Diskurs ist also vielleicht nicht krank, aber kränkeln tut er doch. Auf der Seite der Nachfahren der Täter ist einfach noch so viel Unbewältigtes im Spiel.

Der Geist der Zeit tut dabei sein Übriges. Die Rassismusforscherin Manuela Bojadžijev verwies auf das Problem, dass es inzwischen offenbar einen ganz grundsätzlich diskurstaktischen Konsens gebe: Alle gingen heute davon aus, dass sie sich als Opfer darstellen müssten, wenn sie gehört werden wollten. Für die so dringende Intensivierung der Täter-Erinnerung ist das die denkbar ungünstigste Voraussetzung.

Das Gespräch, dass danach Jens-Christian Wagner, Karen Jungblut und Tobias Ebbrecht-Hartmann führten, ließ einen dann leider etwas ratloser zurück, als man gehofft hatte. Alle drei haben die Organisation von Erinnerung ganz konkret zum Beruf, Wagner als Direktor der Gedenkstätte Buchenwald, Ebbrecht-Hartmann als Forscher an der Jerusalemer Hebrew University und Jungblut als Leiterin der Shoa Foundation in Deutschland. Dass die Zeitzeugen aussterben, ist dabei nicht ihre größte Sorge. Eher, dass die Ruhe und der Raum, die für gelingende Erinnerungsarbeit nötig sind, viel zu rar sind. Einen echten Eindruck von Buchenwald etwa, so Wagner, bekämen Schüler nicht durch eine einzelne Führung. Wirklich sinnvoll seien eigentlich Workshops, die mehrere Stunden dauerten, besser mehrere Tage. Und ohne ausführliche Vor- und Nachbereitung des Besuchs in der Schule verblasse auch der Effekt der Workshops schnell.

Die Rigorosität, mit der am Ende der Tel Aviver Soziologe Natan Sznaider darauf bestand, sich nicht mehr Versöhnung vorzugaukeln, als angesichts des existierenden Antisemitismus möglich sei, erschien da plötzlich viel weniger provokant, als man es sich wünschte: "Die Juden sind fremd, das ist doch die unbekannte Welt nebenan." Das klang deprimierend hart, aber im Geiste der Konferenz verwies es eigentlich nur auf das womöglich wirkliche Problem: Noch fremder als das deutsch-jüdische Leben könnten der Mehrheit der nicht-jüdischen Deutschen nur noch wesentliche Teile ihrer eigenen Familiengeschichten sein.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusHolocaust-Gedenken
:Ernst statt albern

Vor einem Jahr haben KZ-Gedenkstätten in Deutschland und Österreich damit begonnen, Kurzvideos für Tiktok zu produzieren. Doch Shoah-Gedenken neben Tanz- und Tiervideos, geht das überhaupt?

Von Joshua Beer und Alexandra Föderl-Schmid

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: