Das war 2023:Die zehn wichtigsten Themen, über die München diskutierte - und stritt

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Dragking Eric Big Clit (rechts) und Dragqueen Vicky Voyage lasen in der Stadtteilbibliothek in Bogenhausen Kindern vor. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

200 Polizisten müssen eine Drag-Lesung vor Kindern schützen, Stadtwerke und Stadtsparkasse verärgern viele ihrer Kunden, Fahrgäste leiden unter Schnee und Streiks - doch für Autofahrer hat die Stadt eine Überraschung.

Von SZ-Autorinnen und -Autoren

Drag-Lesung in der Stadtbibliothek

Mitte Juni herrschte Ausnahmezustand auf dem Rosenkavalierplatz in Bogenhausen. Rund 200 Polizisten waren vor der Stadtbibliothek damit beschäftigt, verschiedene Gruppen von Demonstranten auseinanderzuhalten, knapp tausend Menschen: einerseits Rechtsextreme, Querdenker, besonders Religiöse - andererseits deutlich mehr liberal Eingestellte, angeführt vom Bündnis "München ist bunt", moralisch unterstützt von Vertretern aller Stadtrats-Parteien außer der AfD.

Und alles nur, weil einer Handvoll Kinder ab vier Jahren in der Bibliothek etwas aus Büchern vorgelesen wurde, damit sie wissen, dass es okay ist, anders zu sein als die meisten anderen um einen herum; und auch, dass es unterschiedliche Geschlechterrollen gibt. Dafür wurden zwei Verkleidungskünstler engagiert, sogenannte Drags - Vicky Voyage und "Eric Big Clit", übersetzt: Erich, die große Klitoris. Vor allem an diesem Namen erhitzte sich die Debatte, die der CSU-Stadtrat Hans Theiss mit einem Tweet entfacht und die AfD dann geschürt hatte. Die Aufregung um vermeintliche "Frühsexualisierung" und "Kindeswohlgefährdung" war groß, die Tagesschau berichtete von einem "Kulturkampf". Die Dragkünstler stellten sich den Kindern einfach als Vicky und Eric vor, und die Kleinen fanden die Lesung dem Vernehmen nach ganz lustig. Joachim Mölter

Teure Kontomodelle der Stadtsparkasse

Die Stadtsparkasse feiert ihr 200-jähriges Bestehen. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Die Empörung war enorm, als die Stadtsparkasse Mitte Juli eher beiläufig ein "neues Gebührenmodell" für ihre Girokonten ankündigte, "abgestimmt auf die Bedürfnisse der Kunden". Die sind zwar nie erfreut, wenn Preise erhöht werden, aber diesmal waren sie richtig sauer: Sogar fürs Geldabheben am Automaten hätten sie extra zahlen sollen. Man musste kein Finanzgenie sein, um auszurechnen, dass günstig erscheinende Grundtarife in Verbindung mit hohen Zusatzkosten unter dem Strich ziemlich teuer kommen können. Nach massiver öffentlicher Kritik und auf Druck von Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD), dem Chef des Verwaltungsrats, nahm Bank-Boss Ralf Fleischer einige Ideen wieder zurück. Der Ärger blieb.

Die Stadtsparkasse verwaltete bis zum Sommer rund 580 000 Girokonten von Privat- und Geschäftsleuten. "Jeder zweite Münchner ist Kunde bei der Sparkasse", wirbt sie auf der Homepage, zudem mit dem Slogan "Münchens beliebtestes Girokonto". Bis Mitte Dezember hatte trotzdem ein Fünftel der Privatkunden dem Wechsel in die neuen Strukturen noch nicht zugestimmt; einige dürften sich eine neue Bank gesucht haben. In einem Interview im Oktober hatte Bank-Chef Fleischer noch darauf verwiesen, dass mehr Konten neu eröffnet als gekündigt würden. Joachim Mölter

Schnee legt die Stadt lahm

Bis die MVG alle Trambahnschienen vom Schnee befreit hatte, dauerte es mehrere Tage. (Foto: Stephan Rumpf)

Am Freitagabend Anfang Dezember ging es los mit dem unendlichen Schnee. Er fiel und fiel und fiel weiter, am Samstagabend lagen mindestens 30 Zentimeter Neuschnee auf Autodächern, Fahrradsätteln, Briefkästen, Laternen - und natürlich auf den Straßen, Schienen und Startbahnen. Während viele den Schnee genossen, brach an anderen Stellen das Chaos aus. Drei Tage lang hoben so gut wie keine Flieger vom Flughafen ab, viele Passagiere mussten in den Terminals ausharren. Einen ganzen Tag fuhren keine Züge, weder von München los noch nach München rein. Die gesamte Woche danach blieben viele S- und Trambahn-Strecken gesperrt - und mit jedem Tag wuchs der Ärger, dass Bahn und MVG mit dem Räumen nicht nachkamen.

Viele Bäume brachen unter der Schneelast zusammen. (Foto: Alexander Pohl/IMAGO/aal.photo)

In den Parks sind viele Bäume unter der Schneelast zusammengebrochen, haufenweise Äste lagen überall herum. Auch Tage nach dem Schneefall kam der Winterdienst nicht hinterher, viele Menschen sind auf den Gehwegen ausgerutscht. Die Kliniken berichteten von einem massiven Patientenaufkommen aufgrund des Glatteises. OB Dieter Reiter (SPD) sah sich schließlich gezwungen, das verpönte Streusalz auch auf Fußwegen zu erlauben, weil die sonst üblichen Streusteinchen nicht weiterhalfen. Das schöne Weiß verwandelte sich in einen nervigen, grau-braunen Störenfried. Erst rund zehn Tage später war der Spuk vorbei, der so zauberhaft anfing: Der Regen und die Plusgrade spülten den Restschnee einfach weg. Ekaterina Kel

Abrechnungschaos bei den Stadtwerken

Viele Kunden der Stadtwerke mussten monatelang auf ihre Abrechnung warten. (Foto: Stephan Jansen/dpa)

Im Sommer warteten viele Münchnerinnen und Münchner ungeduldig auf Post von den Stadtwerken: Abrechnungen, Abschlagszahlungen, Abbuchungen - nichts geschah. Grund war die staatliche Energiepreisbremse für Strom, Gas und Wärme, mit der die Bundesregierung die Bürger entlasten wollte - und die für ein großes Durcheinander sorgte bei Versorgungsunternehmen wie den Stadtwerken München (SWM).

Das Gesetz trat zum 1. März in Kraft, galt aber rückwirkend auch für Januar und Februar; Monate, die zum Teil schon abgerechnet waren. Zudem wurde es ständig nachgebessert, sodass die Stadtwerke mit den Preisberechnungen kaum hinterherkamen: Sie mussten ihre Computersysteme ja für mehr als 900 000 Kunden und 200 verschiedene Tarife neu programmieren. Das dauerte. Weil das Gesetz aber vorschrieb, dass die Versorger erst dann Abschläge abbuchen dürfen, wenn sie über künftige Zahlungen informiert hatten, warteten Hunderttausende monatelang, dass die SWM fällige Beträge einzieht. Zwischenzeitlich summierten sich deren Außenstände auf einen dreistelligen Millionenbetrag. Erst kurz vor Weihnachten hatten "nahezu alle Privat- und Gewerbekunden" die erforderlichen Informationen erhalten, wie die SWM mitteilten. Einige Sonderfälle mussten aber immer noch "individuell bearbeitet werden". Joachim Mölter

Eine Stadt im Streik

An manchen Streiktagen blieb der Münchner Hauptbahnhof fast menschenleer. (Foto: Matthias Balk/dpa)

Alles steht still, nichts geht mehr: Die Gewerkschaft Verdi rief 2023 immer wieder zu Warnstreiks auf. An Fasching blieb das Konfetti liegen, weil Straßenkehrer ihre Arbeit niederlegten. Die MVG legte zweimal den Verkehr mit Bussen, U-Bahnen und Trambahnen lahm. Der Müll wurde nicht abgeholt, die Kinder in den Kitas mehrmals nicht betreut. Außerdem mussten viele Operationen abgesagt werden, weil auch Beschäftigte der kommunalen Kliniken streikten. Opern wurden nur konzertant aufgeführt, weil Beschäftigte der städtischen Bühnen ebenfalls streikten. Und erstmals in seiner Geschichte musste der Münchner Flughafen für einen Tag im Februar komplett den Betrieb einstellen.

Im März sprach der Münchner Verdi-Geschäftsführer Heinrich Birner vom "größten Streiktag der letzten 30 Jahre" in München. Und alle betonten immer wieder ihre Forderungen nach mehr Geld und besseren Arbeitsbedingungen. Auch die S-Bahnen und Regionalzüge wurden mehrfach bestreikt: Im April und Mai durch die Lokführer der Gewerkschaft EVG, im November und Dezember waren Lokführer der GDL dran. Und selbst die Apotheker haben Streiklust bekommen: Im Juni machten 90 Prozent der Apotheken in der Stadt für einen Tag zu. Ekaterina Kel

Klimaschützer gegen Autofahrer

Bei der IAA beherrschten Autohersteller das Bild in der Innenstadt. (Foto: Catherina Hess)

Für die einen war es ein automobiles Hochamt, für die anderen Tiefpunkt auf dem Weg zu klimafreundlicher Mobilität. Die Automesse IAA Mobility polarisierte im September auch bei ihrer zweiten Auflage in München. Auf den prominentesten Plätzen der Innenstadt bauten sich die Hersteller auf, Klimaaktivistinnen und -aktivisten versuchten, das PS-Fest zu stören. Zwei junge Frauen seilten sich etwa am Mercedes-Stand ab und spannten ein Transparent: "Mit Vollgas in die Klimahölle." Die Niederlassung desselben Herstellers an der Donnersbergerbrücke war Schauplatz eines heftigen Zusammenstoßes: Dutzende Aktivisten liefen auf das Autohaus zu, ein paar Polizisten rannten ihnen entgegen, Schlagstöcke schwingend. Ein Aktivist wurde schwer am Ohr verletzt, aufhalten ließ sich die gesamte Gruppe nicht.

Jenseits der IAA prägte die "Letzte Generation" das Protestgeschehen, vor allem vor der Landtagswahl. Mit unzähligen Straßenblockaden brachten sie Menschen in Autos in Rage. Während sich Wissenschaftler unterm Siegestor mit ihnen solidarisierten, protestierte ein Cabrio-Fahrer gegen die Protestierenden mit lauter Musik: "Ich will Spaß, ich will Spaß!" Ganz anders die Stimmung bei einer Demo von Fridays for Future: 10 000 Menschen kamen, darunter auffallend viele ältere Semester. Ein Demonstrant wandte sich auf einem Schild direkt an den Ministerpräsidenten: "Markus, ich will ein Windrad von Dir!" Bernd Kastner

München bekommt ein neues Kennzeichen

Anfang Dezember wurden in der Kfz-Zulassungsstelle die ersten MUC-Autokennzeichen vergeben. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Jahrzehntelang waren die Münchner und die Bewohner des Landkreises München durch das "M" auf dem Autokennzeichen als solche identifizierbar. Seit 1. Dezember können Halterinnen und Halter, die ihr Fahrzeug im Verwaltungsbezirk "München Stadt" zulassen, auch das Kennzeichen "MUC" beantragen. In München gab es zum Jahresanfang 2023 rund 760 000 zugelassene Fahrzeuge, im Landkreis München rund 240 000. Weil allmählich die Kombinationsmöglichkeiten ausgingen, führte die Stadt nun die neue Kennung ein.

Schon im September erteilte der Bund seine Genehmigung. Vornehmlich sollen Motorräder oder Roller mit Elektroantrieb das neue Kennzeichen tragen. Der erste Halter mit MUC-Schild fährt einen BMW. Als er sein Schild abholte, überraschten ihn Kreisverwaltungsreferentin Hanna Sammüller-Gradl und Bürgermeister Dominik Krause (beide Grüne) mit einem Blumenstrauß. Und das, obwohl er einen PS-starken Benziner zugelassen hatte. Andreas Schubert

Zoff um die Kolumbusstraße

Für einen Sommer wurde die Kolumbusstraße umgestaltet. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Es ist nur ein kleiner Straßenabschnitt, auf dem Forscher der Technischen Universität München erkunden wollten, inwiefern sich das Leben in der Großstadt lebenswerter gestalten lassen könnte. Doch der "Reallabor" genannte Versuch in der Kolumbusstraße zeigte einmal mehr, dass die Frage, wie der öffentliche Raum genutzt werden soll, die Stadt spalten kann.

Während sich Familien mit Kindern auf ausgerolltem Rasen und in Sandkästen unter eigens aufgestellten Bäumen vergnügten, gingen manchen Anwohnern die Begrünung und das Kinderlachen derart auf die Nerven, dass sie auf die Barrikaden gingen. Zudem wollten sie es nicht akzeptieren, dass auf einen Schlag vier Monate lang 40 Parkplätze wegfielen.

Unbekannte warfen Eier aus Fenstern auf die Passanten, andere zogen lieber vor Gericht. Obwohl die Stadt die Anwohner schriftlich informiert hatte, fühlten sie sich nicht ausreichend beteiligt. Sogar Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) übte Kritik: "Nur ideologisch Parkplätze zu streichen, damit sie weg sind, hilft niemandem", erklärte er. Das Gericht bezeichnete die Straßensperrung als Grenzfall im Straßenrecht. So einigte sich die Stadt mit den Klägern und beendete das Projekt eine Woche früher. Ein weiteres Mal wird die Kolumbusstraße wohl nicht gesperrt werden. Andreas Schubert

Streit um den Denkmalschutz

Ein Gericht hat die Pläne für das Gelände der Tierärztlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität am Englischen Garten gestoppt. (Foto: Stephan Rumpf)

Der neue Physik-Campus der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) an der Königinstraße soll ein internationales Vorzeigeprojekt werden, gerade richtig für eine Fakultät, die seit 2023 in Person von Ferenc Krausz einen weiteren Nobelpreisträger in ihren Reihen hat. Doch dieses Projekt erlitt im Sommer einen gewaltigen Rückschlag: Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) setzte mit einem Beschluss den Bebauungsplan für den Campus vorläufig außer Kraft und stoppte damit den Abriss alter Gebäude der Tierklinik, die nach und nach vom Rand des Englischen Gartens nach Oberschleißheim zieht. Der VGH hält es für möglich, dass die bisherige Bebauung zumindest teilweise denkmalwürdig ist - was das Landesamt für Denkmalpflege und die Stadt München verneint hatten. Der Abriss- und Baustopp gilt bis zu einem Urteil im Hauptsacheverfahren, mindestens.

Das Thema Denkmalschutz beschäftigte auch den Bayerischen Rundfunk, der will nämlich den in den Sechzigerjahren erbauten "Studiobau" abreißen, um Platz für eine neue Bebauung auf dem Stammgelände am Rundfunkplatz zu machen. Doch eine rührige und lautstarke Initiative mit viel Unterstützung von Kulturschaffenden hält das Gebäude für ein radio- und kulturgeschichtliches Denkmal. Das unter Druck geratene Landesamt, das dies bisher verneint hatte, erklärte Ende September überraschend, die Prüfung sei noch nicht abgeschlossen. Sebastian Krass

Disziplinarverfahren gegen LMU-Professor

Demokratischer Widerstand, so heißt eine wöchentlich erscheinende Zeitung aus Berlin. Sie stammt aus dem Corona-Leugner-Milieu und ist laut dem Berliner Verfassungsschutz "das wichtigste Sprachrohr" einer Bewegung, die im Internet "Verschwörungserzählungen und demokratiefeindliche Propaganda" verbreite. Michael Meyen, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU), veröffentlichte in dieser Publikation regelmäßig eine Medienkolumne, im Frühjahr firmierte er kurzzeitig sogar als Mit-Herausgeber.

Wegen seines Engagements eröffnet die Landesanwaltschaft des Freistaats im Sommer ein Disziplinarverfahren gegen den Beamten Meyen. Angaben zu den Vorwürfen und möglichen dienstrechtlichen Verstößen machte sie nicht. Wissenschaftsminister Markus Blume (CSU) sagte aber: "Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung." An bayerischen Hochschulen sei kein Platz für extremistisches Gedankengut. Meyen, für den die Unschuldsvermutung gilt, äußerte sich auf Anfragen der SZ nicht zu den Vorwürfen. Die Landesanwaltschaft teilte am Jahresende mit, die Ermittlungen dauerten an. Sebastian Krass

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