Krise in der Kulturszene:Trügerische Leichtigkeit

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Konzert-Feeling ohne Abstandsregeln und Masken: das Publikum bei Rea Garvey auf dem Tollwood-Festival. (Foto: Stephan Rumpf)

Steigende Kosten, zögerliches Publikum und ein Virus, das nicht weichen will - auch wenn es momentan so aussieht, als würde das Kulturleben Fahrt aufnehmen, blicken Veranstalter mit großen Sorgen in die Zukunft.

Von Michael Zirnstein, München

Am Ende der Befindlichkeitsabfrage unter Münchner Veranstaltern fällt auf, dass man kaum über Masken, Abstände und Zuschauerbegrenzungen gesprochen hat. Dabei war dies das große Aufregerthema in den vergangenen zwei Jahren - Kulturbetriebsschikanen. Dass die Hygieneauflagen gerade nicht ganz oben auf der Sorgenliste stehen, heißt aber nicht, dass deren Wiedereinführung ausgeschlossen ist - die Konzertagenten haben derzeit nur schlimmere Sorgen. Oder wie es Bernd Schweinar, als Geschäftsführer des Verbandes für Popkultur in Bayern der politische Kämpfer der Branche, sagt: "Die Krise ist nicht überwunden, die Angst vor dem Herbst geht um." Und die Angst vor dem Jahr 2023, das laut dem bayerischen Rockintendanten "ein brutales" wird. Ein Schicksalsjahr für Veranstalter, Bühnenbetreiber und schließlich für viele Künstler.

Nur sieht die akute Bedrohung derzeit niemand von außerhalb, und deshalb hilft auch niemand. Denn es brummt doch alles wieder. Die Konzertprogramme sind übervoll, in Clubs und Discos wird auf Tuchfühlung getanzt, im Olympiastadion folgt ein Großereignis dem anderen, am neuen Konzertort Messe stehen die Riesen-Open-Airs mit Robbie Williams, Helene Fischer und Andreas Gabalier an; und erstmals seit vielen Jahren bekommt München mit dem "Superbloom" im Herbst wieder ein prächtiges Festival. Jubel, Trubel, Heiterkeit - so hört sich auch die Bilanz des Sommer-Tollwoods an. Das haben in einem Monat 850 000 Gäste besucht, 130 000 davon die Bezahlkonzerte in der Arena. Vorpandemische Dimensionen. Aber die Zahlen, so die Pressesprecherin Stefanie Kneer, könnten die "Lebensfreude" nicht beschreiben: "Wichtiger war die Atmosphäre, Künstler und Publikum, die so ausgehungert waren, waren so begeistert, dass sie wieder rausdurften." Zwar trugen bei jedem Konzert ein paar Gäste Masken und hielten sich am Rand des großen Zeltes auf, zwar musste der erkrankte Barney Murphy kurzfristig ersetzt werden - aber nie musste etwas abgesagt werden. Corona war nahezu ausgeblendet.

Abzug: Am Festival-Freitag mussten die Camper das Open-Air-Areal räumen. (Foto: Löb Daniel/dpa)

Der Schein trügt. Das Virus ist noch da. Nahezu jeden Kulturprofi hat es bereits erwischt, die Branche leidet quasi unter Long Covid, mit den unterschiedlichsten Symptomen: Fachkräftemangel, Kostensteigerungen, Planungsunsicherheit, Zuschauerschwund und vieles mehr. Nur bemerken das die Kulturkonsumenten noch nicht. Außer beim Puls-Open-Air in Schloss Kaltenberg, wo Tausende Gäste heimgeschickt werden mussten, weil zu wenig Sicherheitspersonal auftauchte. "Die dringendste Herausforderung ist, jetzt nicht zu sagen, alles wäre Friede, Freude, Eierkuchen", sagt Schweinar.

Das käme beim Verband der Münchner Kulturveranstalter niemand in den Sinn. "Tatsächlich gibt es die Krisensitzungen wieder", sagt der Vorsitzende Patrick Oginski, der selbst einige Konzert- und Kleinkunstagenturen betreibt. Ein Thema der "Arbeitsgruppe Live" ist das momentane Konzert-Überangebot. "Jeder will loslegen", bestätigt Dietmar Lupfer vom Muffatwerk. Verschobene Konzerte drängeln sich neben neu gestartete Tourneen, man drängt vor allem ins Freie, für nächstes Jahr sind angeblich schon zwölf Konzerte im Olympiastadion angesetzt, die Veranstalter fordern mehr Zeiten auf dem Königsplatz - die Zahl der Kartenkäufer insgesamt steigt aber nicht. Der Kartengroßhändler Eventim hat angegeben, er verkaufe derzeit so viel wie 2019, allerdings für doppelt so viele Veranstaltungen. Bleibt im Schnitt für jedes einzelne Konzert die Hälfte an Gästen. Aber auch das trügt. " Johnny Depp auf Tollwood ist sofort ausverkauft, wie alles, was neu ist, was Momentum hat. Jugendliche Themen, Hip-Hop, alles, was eine Bubble hat, das läuft sehr gut", sagt Oginski. Alles für die Generation 40-Plus, Kleinkunst, Jazz und Klassik etwa, sei gedämpft. Lupfer bestätigt das: "Diese Leute haben Angst vor Infektionen, vor allem vor der Aussicht, dann in Quarantäne zu müssen. Selbst bei großen Namen wie Robert Cray oder Trombone Shorty war es bei uns signifikant weniger als sonst." Beeinflusst das die Programmplanung? "Erst einmal nicht", sagt Lupfer, aber eine Analyse stehe an, er hat Angst, dass "experimentellere Sachen herunterfallen" könnten.

Zu den "Ärzten" kamen nur 16 000 Besucher ins Olympiastadion

Für solche kunstvollen Konzerte abseits des Mainstreams steht auch Tobi Frank mit seiner Agentur Club 2. Zum Beispiel wollte man die Szene-Granden Chicks on Speed richtig aufwendig in der Muffathalle auftrumpfen lassen, mit eigenen Bühnenbauten und drei Tagen proben. Am Ende kamen 150 Fans. Auch zu The Notwist gingen nur 1000 Gäste in den Circus Krone. Frank hatte aus der Erfahrung heraus mit dem Doppelten kalkuliert, ebenso bei King Gizzard and The Lizzard am 10. August. "Hätten wir die nicht zufällig ins günstigere Backstage verlegen können, hätten wir 20 000 Euro Verlust gemacht, das hätte uns das Genick gebrochen", sagt Frank. Für die Alten seien Konzerte nach der Corona-Entwöhnung keine Selbstverständlichkeit mehr, die gingen jetzt lieber essen oder in die Berge oder müssten sparen, spekuliert Frank, und auch die Jungen hätten es "noch nicht in ihrer Kultur drinnen" in einen Club zum Konzert zu gehen, die "treffen sich an der Isar". Eigentlich wollte man die Agentur vergrößern, jetzt ist Mitgründer Ivi Vukelic ausgestiegen, und Frank hält seine Planungen zumindest bis 2023 "lieber ganz low". Über einige Absagen von Künstlerseite wegen schlecht verkaufter Konzerte ist er "manchmal sogar froh".

Auch Michael Löffler von Target Concerts sagt, er könne "auf jeden Fall keine Sachen mehr machen, die schon im Normalzustand auf der Kippe stehen". Und normal sei gerade nichts, der Vorverkauf für die nächste Saison schleppe sich. Auch aktuell seien seine Konzerte "unter Soll". Sein "krassestes Beispiel" sind Die Ärzte. Als er im September 2020 gleich zwei Konzerte mit den Fun-Punk-Oldies in der Olympiahalle ankündigte, waren 20 000 Tickets binnen drei Stunden weg. Also traute er sich, als die Tour abgesagt werden musste, bei der Neuansetzung gleich an das Olympiastadion: Dorthin kamen heuer schlappe 16 000 Besucher.

Da zahlt der Veranstalter drauf. Aber die Lage verschärft sich eben noch: Die Kosten sind enorm gestiegen, weil das Material knapp ist und Fachkräfte abgewandert sind (viele Techniker installieren nun Solarpaneele). Die Bundesvereinigung der Veranstaltungswirtschaft hat vorgerechnet, dass Hallenmiete, Technik, Toilettenwagen, Auf- und Abbau, Personal wie Fahrer und Security aber auch Künstler derzeit im Schnitt 45 Prozent mehr kosten. Kaum einer arbeitet noch kostendeckend in der Branche. "Ich weiß nicht, wie lange das gerade die Mittelgroßen noch durchhalten", sagt Oginski vom VDMK. Gerade auf selbstveranstaltende Bühnen-Clubs wie Strom oder Heppel & Ettlich laste ein "irrer Druck".

Das viel gelobte bayerische Spielstättenförderprogramm allerdings ist Ende Juni ausgelaufen, weil es nur als Lockdown-Hilfe gedacht war. Auch beim Bund laufen der Kultursonderfonds und die Neustarthilfe bald aus, die spezielle Reihen förderten oder bei coronabedingten Verlusten einsprangen - nur deswegen haben einige Veranstalter sich überhaupt wieder herausgewagt, etwa das Backstage mit dem derzeit laufenden "Free & Easy"-Gratis-Festival. Aus dem Wirtschaftsministerium aber haben Insider auf Nachfrage erfahren: Der Markt müsse die Kultur nun regeln, man habe dringendere Probleme wie Putins Krieg in der Ukraine. Richtig. Die Freiheit der Demokratie sollte aber auch auf den Bühnen hierzulande verteidigt werden. Und der Betrag zur Rettung der Kultur wäre "vergleichsweise überschaubar", findet Schweinar. "Jetzt, da Haushaltsberatungen anstehen, darf der Bund den Kulturbereich, den man mit Abermillionen gerettet hat, nicht auf der Zielgeraden absaufen lassen."

Auch bei günstigen Indie-Rockbands werden wohl die Eintrittspreise steigen

"Denn der dicke Hammer kommt noch", sagt Oginski, wenn die Gas- und Strompreise im Herbst weiter steigen, werde das auf die Veranstalter umgelegt. Das Muffatwerk hat bereits eine neue Mietpreisliste verschickt. Auch weil wegen des Virus täglich Personal absage, daher müsse man mehr Leute für die Schichten einteilen, das koste extra, sagt Lupfer. "Man müsste Konzerte im Schnitt fünf Euro teurer machen", schlägt er vor. Klingt bezahlbar. "Die Leute geben aber nur eine bestimmte Summe im Monat aus, das reicht dann nur für acht statt zehn Konzerten." Man müsse sich wohl auch bei "eher günstigen Indie-Rockbands an Preise wie im Jazz gewöhnen". Das Backstage musste für die Humppa-Truppe Elekelaiset, alte Stammgäste, statt 15 Euro 25 verlangen, "mit Bauchweh", wie Booker Daniel Lazak sagt, denn die Sub- und Jugendkultur dürfe nicht brachliegen.

Werden es am Ende die Künstler bezahlen? Nicht die Zugnummern, die können ihre Gagen derzeit nach oben schrauben. "Aber den kleineren Bands kann man nicht mehr so viel Geld bieten, wenn die Einnahmen ausbleiben", sagt Dietmar Lupfer. Er schlägt vor, dass der Staat Programme und Tourneen von Künstlern mit Anspruch fördert. "Man darf die Neustarthilfe nicht als begrenzte Maßnahme verstehen, sondern sollte sie als Kulturwandel verstetigen." Bands am Anfang sollten ihren Traum jedenfalls realistisch angehen. "Es gibt schon welche, die den Schuss nicht gehört haben", sagt Michael Löffler, "die fordern was weiß ich was für die Garderobe. Aber drei Flaschen Schnaps gibt es nicht mehr. Punkt."

So sah das erste Konzert im Backstage nach dem Lockdown im Juni 2020 aus. Jetzt fürchtet man hier den kalten Winter. (Foto: Stephan Rumpf)

Wo lässt sich noch sparen? An der Heizung? "Die Arena heizen wir mit Gas", sagt Lazak vom Backstage, "aber im Winter keine Garderobe machen und die Leute ziehen den Mantel nicht aus, das wäre auch ein Schmarrn." Vielleicht kommt die Lösung von Tollwood, wo man die Leute beim Menü zum Varieté im Grand Chapiteau nicht in der Kälte zittern lassen will. "Wir arbeiten an einem Konzept für Energieeffizienz", erklärt Stefanie Kneer, "typisch Tollwood, als Umweltfestival wollen wir vorangehen und innovative Lösungen finden."

Und dann hilft eben doch nur Daumen drücken und beten, dass Corona nicht noch eine böse Überraschung parat hat. Test- oder Impfkontrollen und weitere Hygienemaßnahmen würden die Kosten weiter treiben. "Wir planen so, als würde alles gehen, mit Silvestergala und -party", sagt Stefanie Kneer, allerdings immer mit Blick auf Infektions- und Krankenhauszahlen. Und auf die Wiesn. "Den Worldcup im Superspreading", wie Target-Chef Löffler sie nennt. "Wenn die Wiesn stattfindet, fällt danach wochenlang die Hälfte unseres Publikums und unseres Personals aus, da gruselt mich davor."

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