SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 58:"Will der uns verarschen?"

Lesezeit: 2 min

Manchmal behandelt Pola Gülberg Patienten, bei denen man zunächst auf den Gedanken kommen könnte, sie wollen einen zum Narren halten. (Foto: Florian Peljak)

Ein Patient von Pola Gülberg kommt mit starkem Unterzucker ins Krankenhaus. Er spricht eine Sprache, die niemand versteht - und reagiert weder auf Englisch noch auf Französisch, obwohl er das normalerweise tut.

Protokoll: Johanna Feckl, Ebersberg

Vor einer Weile versorgten wir einen Patienten mit deutlichem Unterzucker. Über seine Freundin hatten wir die Info erhalten, dass er kein Deutsch spricht. Aber auf Englisch könnten wir problemlos mit ihm kommunizieren. "Please, open your eyes." "Could you give me your right hand?" Der Mann reagierte nicht. Stattdessen redete er in einer Sprache, die niemand von uns je zuvor gehört hatte. Da hätte der Gedanke aufkommen können: "Will der uns verarschen?"

Nein, wollte er nicht. Das wurde uns schnell klar. Der Mann war verwirrt und verunsichert, ständig versuchte er aufzustehen, obwohl er das nicht sollte. Wir klärten ihn wieder und wieder auf Englisch auf. Doch es schien, als ob nichts davon bei ihm ankommen würde.

Wir baten seine Freundin zu uns. Vielleicht könnte sie ihn verstehen. Die Frau sprach Französisch mit unserem Patienten, so kommunizierten die beiden für gewöhnlich miteinander. Es klappte nicht. Auch zu ihr sprach er in der uns unbekannten Sprache.

Es war seine Muttersprache, wie uns seine Freundin später sagte. Er stammte aus einem Land, in der unterschiedliche Ethnien diverse Nationalsprachen gebrauchten. Die Frau erkannte die Sprache als solche, verstand sie jedoch ebenso wenig wie wir. Französisch und Englisch hatte der Mann als Zweitsprachen gelernt.

Intensivfachpflegerin Pola Gülberg von der Ebersberger Kreisklinik. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Genau hierin lag der Clou: Der Mann befand sich in einer für ihn unbekannten Lage in einem deutschen Krankenhaus, angeschlossen an viele Kabel und Schläuche, um ihn herum piepsende Monitore und herumwuselnde Menschen - eine Notsituation. Da funktioniert das Gehirn anders als in bekannten Situationen. Im Falle des Mannes bedeutete das: Der Körper war so sehr mit den Folgen des Unterzuckers beschäftigt, dass keine Kraft vorhanden war, um die Schubladen mit englischen oder französischen Wörtern zu öffnen. Zugang gab es nur zur Muttersprache, denn diese Schublade lässt sich bei jedem von uns am leichtesten öffnen.

Solche Reaktionen sind nicht außergewöhnlich. Es ist wichtig, dass wir sie auf dem Schirm haben, um dementsprechend reagieren zu können. So haben wir seine Freundin gebeten, viel bei ihm zu sein. Ihr bekanntes Gesicht hat selbst ohne Sprache beruhigend auf den Mann gewirkt. Wir schafften mit Hilfe unserer Mimik und Gestik eine angstfreie Atmosphäre, etwa durch viel Blickkontakt. Außerdem haben wir weiterhin mit ihm auf Englisch gesprochen, langsam und deutlich mit ruhiger Stimme. Denn wir wussten schließlich nicht, ob er vielleicht doch etwas versteht.

Als sich sein Zustand besserte, reagierte er zunehmend auf unsere gesprochenen Worte. Nach wenigen Tagen konnten wir uns fließend mit ihm auf Englisch unterhalten - die Schubladen zu seinen Zweitsprachen waren wieder frei zugänglich.

Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 38-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind unter sueddeutsche.de/thema/Auf Station zu finden.

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