Erinnerungskultur:Jahrzehnt der Widersprüche

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Unsensibel: Bundeskanzler Helmut Kohl geleitete US-Präsident Ronald Reagan 1985 ausgerechnet auf den Friedhof in Bitburg, wo auch SS-Kader begraben liegen. (Foto: imago stock&people/imago/Dieter Bauer)

Aufklärung über den Nationalsozialismus hatte in der Bundesrepublik immer schon mit Geschichtsverfälschern zu kämpfen. Auch in den Achtzigerjahren, als in Niederbayern ein antisemitisches Flugblatt in der Tasche eines Schülers gefunden wurde.

Kolumne von Norbert Frei

Wer hätte vor drei Wochen gedacht, in Zeiten von Klimakrise, Ukrainekrieg und Ampelstreit könnte sich irgendjemand in diesem Land für das widerliche Traktat eines Gymnasiasten aus den Achtzigern interessieren? Oder gar für eine Kolumne, die sich darauf einen Reim zu machen versucht, ohne dass Hubert und Helmut (oder Helmut und Hubert) im Mittelpunkt stehen? Tatsächlich soll es hier nicht noch einmal um die Aiwangers gehen, sondern um die geschichtspolitische Konstellation in den letzten Jahren der alten Bundesrepublik, in denen die beiden Teenager - so sagte man damals sogar schon in Niederbayern - zur Schule gingen. Das nun wiederentdeckte Flugblatt war nämlich weit mehr als eine postpubertäre Abscheulichkeit: Es war offenbar Teil und Ausdruck jener giftigen Abwehrhaltung, mit der Rechtsradikale und Holocaust-Leugner, aber auch die nationalkonservative "Stahlhelmfraktion" in der Union im gesellschaftlichen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auf jene Veränderungen reagierten, die eine wachsende Mehrheit der Deutschen für richtig und nötig befand.

Norbert Frei ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte in Jena. Wir bedanken uns herzlich bei ihm. Mit diesem Beitrag endet seine Kolumne. (Foto: SZ-Zeichnung: Bernd Schifferdecker)

Das dramatischste Zeichen dafür, dass nach Jahrzehnten des übermächtigen Verdrängens und Beschweigens ein Umdenken im Gange war, lag zu diesem Zeitpunkt schon eine Weile zurück. Die Ausstrahlung des amerikanischen Vierteilers "Holocaust" im Januar 1979 hatte, so der Untertitel eines das Fernsehereignis bilanzierenden Taschenbuchs, eine Nation "betroffen" gemacht. Seitdem war für die von Deutschland ausgegangene Verfolgung und Ermordung der Juden Europas nicht nur ein universell verständlicher Begriff in der Welt. Es wuchsen nun auch die Bereitschaft und das Bedürfnis, darüber und über die anderen Verbrechen des "Dritten Reichs" zu sprechen und zu forschen.

Die forschenden Schülerinnen und Schüler stießen nicht nur auf Wohlwollen

Letzteres zeigte sich besonders eindrücklich im Schülerwettbewerb "Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten". Den gab es zwar, initiiert von Gustav Heinemann, schon seit 1973/74. Aber nach "Holocaust" konnte und sollte es nicht länger allein um die hoffnungsvollen Stationen der deutschen Demokratiegeschichte gehen oder um gefällige Themen wie die Alltagsgeschichte von Arbeit, Wohnen und Freizeit. Auf der Tagesordnung stand jetzt die NS-Zeit. Über drei Ausschreibungen hinweg, von 1980 bis 1985, forschten mehr als 22 000 junge Menschen über die Jahre zwischen 1933 und 1945 und über die frühe Nachkriegszeit in ihrer Region. Sie stießen dabei nicht nur auf Wohlwollen. Als Mitglied der Zentraljury im Wettbewerb über die Kriegsjahre las ich seinerzeit in etlichen Arbeiten von Hindernissen, die den recherchierenden Schülerinnen und Schülern in den Weg gelegt wurden. Über den wohl schlimmsten Fall - die feindseligen Reaktionen, denen Anja Rosmus in ihrer niederbayerischen Heimatstadt Passau begegnete - drehte Michael Verhoeven schließlich sogar einen international beachteten Spielfilm: "Das schreckliche Mädchen" (1990).

Die Achtzigerjahre waren eine vergangenheitspolitisch zutiefst widersprüchliche Zeit: mit forschungsbegeisterten jungen Leuten, die ihre Großeltern befragten und dabei das Los der in der deutschen Kriegswirtschaft allgegenwärtigen Zwangsarbeiter überhaupt erst ins öffentliche Bewusstsein rückten - und einem Bundespräsidenten Karl Carstens, der als vormaliges NSDAP-Mitglied den ersten Wettbewerb unter seiner Schirmherrschaft am liebsten abgebogen hätte; mit einem Kanzler Kohl, der die Republik im Frühjahr 1985 blamierte, als er US-Präsident Reagan zur militärischen Ehrenbezeugung für die Gefallenen der Wehrmacht auf den Soldatenfriedhof in Bitburg zerrte, auf dem auch Angehörige der Waffen-SS lagen - und einem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der kurz darauf für seine Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes ("Ein Tag der Befreiung") weltweite Anerkennung erfuhr.

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Das letzte Jahrzehnt der Bonner Republik war eine Dekade des Terrorismus von links, aber kaum weniger von rechts: mit der neonazistischen "Wehrsportgruppe Hoffmann", dem Oktoberfestattentat 1980, wenig später dem antisemitischen Doppelmord von Erlangen und, ebenfalls in Bayern, mit einem ausländerfeindlichen Brandanschlag 1988 in Schwandorf, bei dem vier Menschen starben. Zugleich war es die Zeit aufblühender kritisch-alternativer Geschichtswerkstätten, denen sich eine neue Generation von NS-Apologeten entgegenstellte. Es war die Zeit von rechten Intellektuellen wie Armin Mohler in der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung, der die Deutschen am "Nasenring" durch eine angebliche Schuldarena geführt wähnte, und linken Aufklärern wie Ralph Giordano, der ihnen vorhielt, durch ihre so lange verweigerte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine "zweite Schuld" auf sich geladen zu haben.

Die NS-Debatte in den Jahren, in denen die Aiwanger-Brüder sich aufs Abitur vorbereiteten, war ebenso aufgeladen wie ambivalent. Einerseits deutete vieles bereits in Richtung jener "Erinnerungskultur", die sich die Republik in den kommenden drei Jahrzehnten zugutegehalten hat, die heute aber erneut infrage zu stehen scheint. Andererseits war noch nicht ausgemacht, wie weit die Deutschen auf diesem Weg tatsächlich gehen würden.

Der "Historikerstreit" über die Singularität des nationalsozialistischen Judenmords hatte 1986/87 die intellektuellen Fronten zugunsten derer geklärt, die sich einer "Vergangenheit, die nicht vergehen will" wirklich stellen wollten. Doch was akademisch erledigt schien, blieb unter den Rechten ein Gegenstand der Relativierung, Verharmlosung und Leugnung. Mochten die Zeitgenossen der NS-Zeit jetzt auch weniger werden - ihre Rechtfertigungserzählungen wirkten weiter.

Dass sich die demokratisch geläuterten Deutschen nicht länger ermahnen lassen müssten, war in den Achtzigern das Mantra der "Ehemaligen" und ihrer Fürsprecher. Letztere wuchsen natürlich schon damals nach, gewiss nicht nur in Bayern. Aber von der CSU wurden sie - und werden sie bis heute -besonders umworben. Franz Josef Strauß, dessen Bild die CSU jetzt wieder plakatiert, polemisierte vor der Bundestagswahl 1987 im Interview mit der SZ gegen "Vergangenheitsbewältiger und Bußprediger": "Sie sollten den Beifallsorkan derer erleben, die nicht dauernd mit dem Dritten Reich belastet werden wollen."

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