Flugblatt-Affäre:Deutsche Deutungskämpfe

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"Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung", so formulierte es Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Jahr 1985. Seine Rede markierte einen Wendepunkt in der deutschen Erinnerungskultur. (Foto: Steiner/picture-alliance/dpa)

Waren antisemitische Entgleisungen in den Achtzigerjahren möglich, weil das Land noch nach einem Narrativ für seinen Umgang mit der NS-Diktatur suchte? Die berühmte Rede von Richard von Weizsäcker 1985 rief noch sehr widersprüchliche Reaktionen zur Schuldfrage hervor.

Von Hilmar Klute

Kürzlich hat sich Hubert Aiwanger als Leser von Gedichten zu erkennen gegeben, das war am vergangenen Sonntag in Keferloh, nachdem Markus Söder ihm sein poröses Vertrauen ausgesprochen hatte: "Tue recht und scheue niemand", rief Aiwanger den Leuten und vor allem sich selbst zu. Das ist ein alter Vers, der in der deutschen Rhetorik und Dichtkunst großes Echo fand und zu Varianten reizte. So auch den nationalistischen Dichter Ernst Moritz Arndt in seinem Poem "Teutscher Trost". Arndt, wortmächtig auch als Historiker und Publizist, hat in seinem Aufsatz "Über Volkshaß" aus dem Jahr 1813 von der "wohltätigen Scheidewand" geschwärmt, die man zwischen Deutschen und Juden zu errichten habe. Natürlich kann man bei der Auswahl von Zitaten nicht immer eine glückliche Hand haben, dasselbe gilt für den Zugriff auf geschichtliche Wahrheiten. Hätte Aiwanger sich von seinem rhetorischen Stilberater das Gedicht "Selbstkritik" von Heiner Müller vorlegen lassen, wäre er auf dieses Zitat gestoßen: "Meine Herausgeber wühlen in alten Texten", mit dieser Zeile fängt das Gedicht an. Es geht beim Stückeschreiber Heiner Müller um ganz andere Fragen als um jene, die sich im Fall Aiwanger auftun. Um die Wahrheit geht es bei Müller immerhin auch, um den Zweifel, ob das, was der junge Heiner Müller als Wahrheit erkannt zu haben glaubte, auch heute noch den Anspruch auf Wahrheit erheben könne. Die letzte Zeile schließlich lautet, provokativ und resignativ zugleich: "Welches Grab schützt mich vor meiner Jugend".

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:Eine verhängnisvolle Affäre

Die Entscheidung von Söder, Aiwanger im Amt zu lassen, war vor allem ein Balanceakt in Sachen Schadensbegrenzung. Doch an wen er sich da gekettet hat, zeigt schon der Sonntag: Der bayerische Ministerpräsident hat sein Urteil noch nicht verkündet, da triumphiert sein Stellvertreter schon im Bierzelt.

Von Katja Auer, Sebastian Beck, Roman Deininger und Andreas Glas

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