Münchner S-Bahn-Desaster:Söders Mini-Beichte, Söders Versäumnis

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Unterschätzte das Thema lange: Ministerpräsident Markus Söder (CSU), hier bei der Pressekonferenz nach einem Krisentreffen mit Bahnvorstandschef Richard Lutz am 29. September 2022 in München. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Von Bayerns Verkehrsministerium eingesetzte Fachleute hatten frühzeitig gewarnt, dass die zweite Stammstrecke viel später kommt. Doch die Staatsregierung nutzte das teure Experten-Wissen nicht - und könnte sich bald mit einem U-Ausschuss konfrontiert sehen.

Von Klaus Ott, München

Bei all der Aufregung über das Desaster der Münchner S-Bahn, über Mehrkosten in Milliardenhöhe und viel längere Bauzeiten bei der zweiten Stammstrecke quer durch die Stadt, ist eines fast untergegangen: Markus Söder hat einen Fehler zugegeben. Er habe erst "im Laufe der Zeit die Bedeutung der zweiten Stammstrecke erfasst", hat Bayerns Ministerpräsident dieser Tage gesagt. Das geschah nach einem Krisentreffen mit der Deutschen Bahn, die endlich und offiziell jene verheerenden Zahlen präsentierte, die sich schon lange abgezeichnet hatten. Frühestens 2035, also erst in mehr als einem Jahrzehnt, werden die ersten Züge durch die neuen Tunnel fahren. Baukosten: mehr als sieben Milliarden Euro. Die Bahn baut die zweite Stammstrecke im Auftrag des Freistaats.

Dass Söder indirekt eingestanden hat, sich nicht ausreichend gekümmert zu haben, ist für seine Verhältnisse fast schon so eine Art Beichte. Schuld sind bei ihm, wenn etwas schief geht, ja meist andere. Doch diese Mini-Beichte dürfte kaum reichen, um aus dieser Nummer wieder herauszukommen. Zu groß wirken die Versäumnisse der bayerischen Staatsregierung und auch von Söder selbst. Die Regierung, genauer gesagt, das Verkehrsministerium, hat schon vor zweieinhalb Jahren erfahren, welch Debakel sich da anbahnt - noch früher als bislang bekannt, wie interne Dokumente zeigen, die der SZ vorliegen. Aber das Ministerium hat viel zu wenig dagegen unternommen.

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Am 28. April 2020 ist im Verkehrsministerium, Adresse Franz-Josef-Strauß-Ring 4 in München, eine Expertenkommission vorstellig geworden. Fünf Fachleute, die das Ministerium seit fast dreieinhalb Jahren beim Bau der zweiten Stammstrecke beraten und die unter dem Titel "Baubegleitung" firmieren, präsentierten auf mehr als 20 Seiten ihre Erkenntnisse. Und die sahen damals schon fürchterlich aus. Die Experten schätzten, dass "die Inbetriebnahme der zweiten Stammstrecke frühestens Ende 2033 erfolgen kann". Mindestens fünf Jahre später als öffentlich verkündet.

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Bei den Baukosten lautete die Schätzung: knapp 5,2 Milliarden Euro statt der damals öffentlich genannten 3,8 Milliarden Euro. Alles ganz penibel und im Detail berechnet. Und über allen Seiten stand groß: Bayerisches Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr. Dazu das Wappen des Freistaats mit jeweils drei goldenen und schwarzen Löwen und einem blauen Panther. Doch wie Löwen und Panther haben Söders Leute nicht gerade agiert, um das Milliardenprojekt voranzubringen. Das Verkehrsministerium, für das bei der Präsentation gleich vier Männer mit am Tisch saßen, nahm die alarmierenden Ergebnisse unter Verschluss.

Nebulös, verschleiernd, falsch: Der Landtag wurde hinters Licht geführt

Einer der vier Männer, ein Baurat, wagte es später sogar, den Landtag hinters Licht zu führen. Mitte 2022 war das, als erste Zahlen an die Öffentlichkeit gedrungen waren und sich das Debakel nicht mehr länger verheimlichen ließ. Im Landtag war das, als die Opposition wissen wollte, ob das Verkehrsministerium schon vor dem November 2021 von Kostensteigerungen gewusst habe. November 2021 deshalb, weil der neue Verkehrsminister Christian Bernreiter (CSU) inzwischen öffentlich erklärte hatte, in diesem Monat habe man von der Baubegleitung folgende Zahlen genannt bekommen: Fertigstellung der Stammstrecke 2037, bei Kosten von 7,2 Milliarden Euro.

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Jetzt ist es offiziell: Der neue S-Bahn-Tunnel quer durch München wird mehr als sieben Milliarden Euro kosten. Gebaut wird er trotzdem, darauf haben sich Bahn und Freistaat festgelegt - und der Landtag kommt als Kontrollinstanz hinzu.

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Was also wusste das Ministerium vor November 2021? Jener Baurat aus dem Verkehrsministerium, der im April 2020 bei der Präsentation der damals schon ernüchternden Zahlen dabei gewesen war, antwortete laut Landtagsprotokoll: "Im Rahmen der Baubegleitung im November 2021 habe das Haus (gemeint war das Verkehrsministerium, Anmerkung der Redaktion) die Zahl einer möglichen Kostenentwicklung der zweiten Stammstrecke bekommen. Davor habe die Expertengruppe den Verdacht gehabt, dass das Projekt nicht in dem Zeitplan, den die DB 2019 kundgetan habe, realisiert werden könne. Die Zahlen dazu seien im November 2021 geliefert worden." DB steht für das Staatsunternehmen Deutsche Bahn.

Eine nebulöse Auskunft, eine verschleiernde Auskunft, eine falsche Auskunft. Die Bahn hatte 2019 erklärt, die zweite Stammstrecke werde 2028 fertig sein und 3,8 Milliarden Euro kosten. Im April 2020 kommt im Verkehrsministerium die Schätzung der eigenen Baubegleitung mit einer Fertigstellung frühestens Ende 2033 und Kosten von knapp 5,2 Milliarden Euro auf den Tisch. Und im Juli 2022 tut ein Baurat aus dem Ministerium im Landtag so, als ob man erst im November 2021 Näheres erfahren habe. Das Verkehrsministerium sagt dazu, es habe sich bei den Daten vom April 2020 "lediglich um Grobschätzungen" gehandelt, die für eine "öffentliche Kommunikation niemals ein hinreichend belastbarer Ersatz für fehlende Daten der DB sein konnten."

Von Februar 2020 bis Februar 2022 Verkehrsministerin von Bayern: Kerstin Schreyer (CSU) aus Unterhaching. (Foto: Sven Hoppe/picture alliance/dpa)

Diese Geheimniskrämerei fällt letzten Endes auch auf Söder zurück. Der Ministerpräsident hat nicht dafür gesorgt, dass falsche Zahlen genannt werden. Das nicht. Aber er hat im Februar 2020 seine CSU-Kollegin Kerstin Schreyer aus Unterhaching bei München als Verkehrsministerin berufen. Sie war zuvor Ministerin für Familie, Arbeit und Soziales gewesen. Schreyer kommt aus der Jugendhilfe und Erwachsenenpsychiatrie, das Sozialministerium war offenbar genau das Richtige für sie. Aber war Verkehrsministerin der richtige Job?

Schreyer sei durchsetzungsfähig, soll Söder anlässlich ihrer Berufung gesagt haben. Bei der zweiten Stammstrecke hat die Ministerin, die mit der S-Bahn zur Arbeit fährt und die Münchner Nahverkehrsmisere also aus eigenem Erleben kennt, genau das vermissen lassen. Spätestens im Frühjahr 2020 hätte sie, angesichts der Zahlen der eigenen Baubegleitung, Alarm schlagen müssen. Und allerspätestens im Herbst 2020, als die Deutsche Bahn bei einem Termin im Verkehrsministerium selbst einräumte, das Milliardenprojekt werde voraussichtlich erst 2034 fertig sein - sechs Jahre später als geplant und verkündet.

Schreyer schrieb Briefe an den Bahnvorstand und an ihren Parteifreund und Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer. Und ließ später die Staatskanzlei, die Regierungszentrale von Ministerpräsident Söder über das drohende Debakel informieren. Was sie nicht machte: mit diesen Zahlen in den Landtag gehen; dafür sorgen, dass Söder den Bahnvorstand herbeizitiert und zur Rede stellt; den Menschen in der Region München sagen, was Sache ist.

Seit 2022 Bayerischer Staatsminister für Wohnen, Bau und Verkehr: Christian Bernreiter, der zuvor 20 Jahre lang Landrat des Landkreises Deggendorf in Niederbayern war. (Foto: Robert Haas)

Das alles haben Söder und der von ihm im Februar 2022 als neuer Verkehrsminister eingesetzte Bernreiter erst getan, als die Kacke am Dampfen war, wie eine Redewendung lautet. Als sich nicht mehr nur Bayerns grün-rot-gelbe Ampel-Opposition über die jahrelange Geheimniskrämerei empörte und im Landtag lauter unangenehme Fragen stellte. Als auch der Koalitionspartner der CSU in Bayern, die Freien Wähler, ziemlich sauer wurde.

Bei den Freien Wählern heißt es, man habe von dem sich anbahnenden Debakel nichts gewusst. In der Staatsregierung seien ausschließlich das Verkehrsministerium und die Staatskanzlei, in denen die CSU das Sagen hat, im Bilde gewesen. Nicht aber Hubert Aiwanger, stellvertretender Ministerpräsident, Wirtschaftsminister und Vorsitzender der Freien Wähler. Und auch nicht Florian Streibl, der Fraktionschef im Landtag.

Hans Friedl (rechts) besucht im Sommer gemeinsam mit seinem Fraktionskollegen Florian Streibl die Baustelle der zweiten Stammstrecke am Münchner Hauptbahnhof. (Foto: Freie Wähler FFB, oh)

Im Juni 2022, kurz bevor sich das Desaster nicht mehr länger verheimlichen ließ, hat Streibl zusammen mit einem Fraktionskollegen die Großbaustelle am Münchner Hauptbahnhof besucht. Und sich von Vertretern der Deutschen Bahn erzählen lassen, es laufe alles nach Plan. Der Plan war eben: Inbetriebnahme der zweiten Stammstrecke 2028, Kosten 3,8 Milliarden Euro. Kurz darauf meldete die Presse Zahlen, die ganz anders lauteten. Woraufhin der neue Verkehrsminister Bernreiter sich "genötigt" sah, wie er im Landtag sagte, die inzwischen noch dramatischeren Zahlen der "Baubegleitung" offenzulegen. Fast zehn Jahre mehr Bauzeit, fast doppelte Kosten.

Die Freien Wähler waren außer sich, sie fühlten sich hinters Licht geführt, sie sprachen von "Offenbarungseid" und attackierten vor allem die Bahn. Aber auch den Koalitionspartner CSU, ohne ihn beim Namen zu nennen. Es wäre "notwendig gewesen", den Landtag regelmäßig zu unterrichten. Das hätten "alle Seiten" versäumt. Also auch das namentlich nicht genannte Verkehrsministerium.

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Als Regierungschef Söder und Verkehrsminister Bernreiter sich vor wenigen Tagen von Bahnchef Richard Lutz die jetzt offiziellen Zahlen der Bahn geben ließen, gab es ein Vorspiel mit den Freien Wählern. Söder und Bernreiter mussten Aiwanger und Streibl versprechen, dass die höheren Baukosten in München nicht zu Lasten der Regionalverkehrs im restlichen Bayern gehen. Und sie mussten zusagen, dass es ein neues Kontrollgremium geben wird: einen eigenen Ausschuss im Landtag.

In dieser Kontrollkommission sollen Bernreiter und die Bahn künftig regelmäßig Rapport erstatten. Damit sich die Geheimniskrämerei der vergangenen drei Jahre nicht wiederholen kann. Erst als der Ministerpräsident und die CSU mit ihren Zusagen die Freien Wähler halbwegs besänftigt hatten, durften Söder und Bernreiter verkünden, dass die Staatsregierung trotz der enormen Mehrkosten zur zweiten Stammstrecke stehe.

Die Regierung zahlte Millionen für das Fachwissen - und nutzte es nicht

Eine Milliarde Steuergeld aus Bayern ist bereits verbaut, etwa für die Stabbogenbrücke in der Nähe des Hirschgartens. An der fahren fast alle Züge und S-Bahnen vorbei, die vom oder zum Hauptbahnhof unterwegs sind. Die Bahn wird ihr Projekttagebuch im Internet noch lange fortschreiben müssen, bis 2037 vielleicht. Und der Freistaat wird noch viel mehr zahlen müssen, viel mehr als eigentlich kalkuliert. Rund 200 Millionen Euro jährlich über die ganze Zeit; 3,7 Milliarden Euro insgesamt sollen es sein. Den Freien Wählern gefällt es gar nicht, dass sich die Kosten für den Freistaat verdoppeln. Aber eine Alternative zur zweiten Stammstrecke sehen auch sie nicht.

Die Ampel-Opposition im Landtag hält sich die Option auf einen Untersuchungsausschuss offen. Teile der Opposition drängen schon länger darauf, einen U-Ausschuss einzusetzen. Der müsste dann im Wahljahr 2023 aufklären, wer von dem Desaster wann was gewusst und möglicherweise vertuscht hat. Dass die neue Kontrollkommission einen U-Ausschuss überflüssig machen könnte, glaubt offenbar kaum jemand bei Grünen, SPD und FDP.

Zu viel ist aus deren Sicht noch erklärungsbedürftig. Der Freistaat hat sich die "Baubegleitung", sprich die hochkarätig besetzte Expertengruppe und deren Arbeitsstab, bislang immerhin 4,6 Millionen Euro kosten lassen. Das hat Bernreiter im Landtag dem Vorsitzenden des Verkehrsausschusses mitgeteilt, dem FDP-Abgeordneten Sebastian Körber. 4,6 Millionen Euro für ein wertvolles Wissen, das die Regierung ungenutzt ließ. Aber warum nur? Manch Oppositionspolitiker argwöhnt, Söder habe vor der Bundestagwahl im Herbst 2021 eigene Probleme lieber verdrängt.

Bernreiter, ein kerniger Niederbayer, der lange Landrat in Deggendorf war, räumt derweil in seinem Ministerium auf. Der Abteilungsleiter für den Schienenverkehr ist neu, auch sonst wird einiges anders geregelt, und für die zweite Stammstrecke gibt es jetzt ein eigenes Referat. Söders und Bernreiters Wortwahl ist bezeichnend. Sie sprechen von neuen, unbelasteten Leuten an den Schaltstellen. Und davon, dass der Freistaat künftiger ein "strengerer Begleiter" der zweiten Stammstrecke werde.

Warum es die zweite Stammstrecke unbedingt brauche, trotz der riesigen Mehrkosten, das begründet Söder mit großen Worten. Die Wachstumsregion München müsse vor dem "Verkehrsinfarkt" bewahrt werden, mehr Bahn statt mehr Auto sei unabdingbar für dem Klimaschutz. "Ist unsere Generation in der Lage, eine weitreichende Entscheidung für die nächsten Generationen zu treffen?" Und überhaupt: "Ein Fliehen vor der Zukunft ist keine Lösung." Die neue Trasse soll immerhin, wie der Regierungschef verkündete, 120 Jahre halten.

Je größer die Bedeutung der zweiten Stammstrecke, desto größer freilich auch Söders Versäumnis.

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