Es sind jetzt bald zehn Jahre, dass ich seit meiner Rückkehr aus Chile wieder an der Ebersberger Kreisklinik auf der Intensivstation arbeite. Da würde man denken, dass ich schon so ziemlich alles gesehen habe. Das stimmt allerdings nicht. Eines habe ich nämlich in diesem Winter zum allerersten Mal erlebt: Patienten, die wegen einer Influenza bei uns behandelt werden müssen.
Die Patienten waren allesamt zwischen 50 und 70 Jahre alt - für unsere ländliche Gegend also eher jung. Insgesamt kann ich mich an fünf Patienten erinnern, die wir wegen starker Atemnot beatmen mussten, außerdem muss jeder Influenza-Patient isoliert werden. Die Fallzahl mag nicht unbedingt hoch klingen. Aber wenn man bedenkt, dass wir in den Jahren davor keinen einzigen hatten, nie, dann ist das eine ziemlich dramatische Zahl.
SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 77:Mit 55 noch einmal der Jüngste sein
Jung sein ist auf der Intensivstation von Pola Gülberg relativ. Manchmal versorgt sie aber auch Patienten, die noch nicht einmal volljährig sind. Das ist belastend für die Pflegerin, doch häufig gibt es in all dem Schlechten auch einen positiven Aspekt.
Deutschland hat im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eine sehr geringe Influenza-Impfquote - 2022 lagen wir bei etwa 43 Prozent bei den 65-Jährigen und Älteren. Dänemark beispielsweise schafft 78 Prozent, laut Europäischer Union beträgt die Ziel-Impfquote 75 Prozent. Da sind wir also meilenweit davon entfernt. Und in der Tendenz sinken die Zahlen weiter. Das mag mit etwas zusammenhängen, was ich in meinem persönlichen Umfeld wahrnehme: Die Menschen sind durch die Corona-Pandemie impfmüde geworden. Selbst aus meinem Kollegium kenne ich einige, die sich nicht gegen Influenza haben impfen lassen, obwohl es für medizinisches Personal empfohlen wird.
Ich glaube, die viel zu niedrige Impfquote hängt auch damit zusammen, dass die Krankheit gerne bagatellisiert wird. Das merkt man schon im Sprachgebrauch: "Mei, i bin hoid bissal grippisch beinander" - das hört man in Bayern gerne mal. Selten ist damit tatsächlich eine Grippe gemeint, also Influenza, sondern eine Erkältung.
Eine Grippe ist eine Viruserkrankung und geht in aller Regel mit hohem Fieber einher, Schüttelfrost, Glieder-, Muskel-, Hals- und starken Kopfschmerzen. Viele Betroffene haben Durchfall oder müssen erbrechen - und die Grippe kann tödlich enden: Die Fälle schwanken stark, aber in der Saison 2017/18 waren es RKI-Schätzungen zufolge in Deutschland 25 000.
Wegen einer Erkältung stirbt niemand, mögen Schnupfen und Co. noch so stark sein. Ich habe mir deshalb angewöhnt, Influenza zu sagen, und nicht Grippe - damit der Unterschied zu einem am Ende harmlosen grippalen Infekt ganz klar ist. So spreche ich nicht nur in der Arbeit, sondern auch in meinem Alltag.
Ich glaube, dass noch ein weiteres Phänomen dazu führt, weshalb sich so wenig Menschen gegen Influenza impfen lassen: Das Virus verändert sich von Saison zu Saison, es braucht deshalb jedes Jahr einen angepassten Impfstoff - und wie bei allen anderen Impfungen auch: Einen 100-prozentigen Schutz kann es nicht geben. Aber sich deshalb gleich gar nicht impfen zu lassen? Das ist ein Denkfehler. Denn ohne Impfung hat der Körper definitiv keine Chance, einen Immunschutz aufzubauen.
Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 39-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind unter sueddeutsche.de/thema/Auf Station zu finden.