Favoriten der Woche:Atemraubend unterhaltsame Intelligenz

Lesezeit: 5 min

Abigail Thorn verschenkt laut Selbstauskunft Gratisabschlüsse in Philosophie. (Foto: You Tube)

Die Video-Essayistin Abigail Thorn erklärt auf Youtube die großen Themen der Zeit: Diese und weitere Empfehlungen der Woche aus dem SZ-Feuilleton.

Von Jakob Biazza, Christine Dössel, Josef Grübl, Martina Knoben und Jens-Christian Rabe

Youtube: 10 Jahre "Philosophy Tube"

Youtube ist eine unerschöpfliche Fundgrube für Unfug, der so tut, als sei er brillant - und für tatsächlich Brillantes, das wie großer Unfug anmutet. Ein Beispiel für Letzteres ist der Kanal "Philosophy Tube" der britischen Schauspielerin und Video-Essayistin Abigail Thorn. Seit zehn Jahren gibt es ihn nun und die 30 bis 45 Minuten langen, so eindrucksvoll kundigen wie scharfsinnigen Videos zu den ganz großen Ideen und Themen der Zeit - Transhumanismus, Gewalt und Protest, die verborgenen Regeln moderner Gesellschaften, die Ethik der Reichen - sind zugleich exzentrisch-ironische Kostümschlachten. Thorn ist mal Sci-Fi-Diva, mal Latex-Kriegerin, mal schwarzer Engel. Was dabei gelingt, ist allerdings das im Netz doch eigentlich Unmögliche: nicht bloß intelligente Unterhaltung (die doch immer auf Kosten des Anspruchs geht), sondern atemraubend unterhaltsame Intelligenz. Jens-Christian Rabe

Rock: Nuno Bettencourts Solo in "Rise"

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Das Solo, das das Gitarren-Internet zuletzt endlich mal wieder nah an die Kernschmelze gebracht hat, fängt also mit einem Fehler an. Er habe beim Einstieg, sagt Nuno Bettencourt, vor lauter Aufregung gleich zwei Saiten verfehlt, und damit ein ihm bislang unbekanntes Geräusch erschaffen: "So etwas wie eine Bassdrum, vermischt mit einer Gitarrennote und einem Autounfall."

Das ist etwas übertrieben, zahlt aber auf seine Theorie zum Erfolg ein, die er dann ausbreitet. Bettencourt sitzt dafür in seinem Wohnzimmer in Los Angeles, Hollywood Hills, Konzertflügel im Zoom-Hintergrund. 56 ist er angeblich, sieht aber höchstens aus wie schön angelebte 40. "Rise" heißt der Song mit dem Solo, der gerade bei etwa 3,2 Millionen Views auf Youtube steht. Das ist nicht viel im Vergleich zu den gut 687 Millionen, die "More Than Words" inzwischen eingesammelt hat, das Lied, für das man Bettencourts Band Extreme kennt, wenn man sie nicht kennt. Aber für die Band heute ist es doch eine Menge.

Spannender sind sowieso die Reaktionen der erweiterten Branche: Queen-Gitarrist Brian May schrieb ihm frenetisch begeistert. Toto-Gitarrist Steven Lukather rief sogar an, um sich zu verneigen. Der in den USA extrem beliebte Musikerklärer Rick Beato widmete eine ganze Show der Analyse des Solos. Neun Gitarren-Magazine druckten Bettencourt aufs Cover (was beweist: Es gibt tatsächlich noch neun ...).

Und besonders schön ist nun eben Bettencourts eigene Erklärung für den Hype: Das Solo - grenzdebile Geschwindigkeitsverrücktheiten, sehr archaische Bendings mit genug Spannung, um Beton zu zerreißen, vulgo: absolut anbetungswürdiges Gepose und zum Schluss dann noch ein gefühlt neunhändiger Arpeggio-Harmonien-Irrwitz - sei, so Bettencourt, für sich wertlos. Doch, doch, so sagt er das. Und jetzt Achtung: Bedeutung bekomme es erst im Rahmen das gesamten Stückes - als "song within the song" oder Geschichte innerhalb der Geschichte. Deshalb gäbe es kein PR-Video, auf dem er es ohne Begleitung spiele.

Anders gesagt: Wenn das Gitarrensolo gerade tatsächlich eine Renaissance erlebt, und man würde ihm das ja schon mal wieder wünschen, dann doch bitte mit genau dieser Begründung. Und weil der Spielende sich fragte: "Habe ich alles Mögliche für den Song getan?" Jakob Biazza

Klassik: Mozartfest Würzburg

Die festlich illuminierte Rückfassade der Würzburger Residenz bei der traditionellen "Nachtmusik" im Hofgarten. (Foto: Christine Dössel)

Wer im Kaisersaal der Würzburger Residenz einem Streichquartett lauscht, dargeboten etwa vom formidablen "Bennewitz Quartett", dem kann schon mal Hören und Sehen vergehen - oder zumindest verschmelzen zu einem ästhetischen Schwirren. Beide Sinne werden hier derart beansprucht, einmal durch die Musik und einmal durch den Schauwert des Raumes, dass man unmöglich die Augen schließen und sich nur auf eines konzentrieren kann. Es ist ein Gesamtkunsterlebnis. Der Saal mit der bombastischen Ovalkuppel ist mit seiner Wimmelbild-Anmutung so fancy wie abgefahren: eine barocke Pracht aus Marmor, Stuck und Gold, herrlichen Lüstern und Figuren, deren Glieder oder Lanzen hier und da schier aus den Gemälden ausbrechen. Überbordend. Die drei himmelsstürmenden Deckenfresken sind von jenem Giovanni Battista Tiepolo, der auch das Treppenhaus der Residenz so einzigartig ausgemalt und zu einer Weltberühmtheit gemacht hat.

All diese Sehenswürdigkeiten, zu denen natürlich auch das von Balthasar Neumann entworfene Gebäude als solches gehört - eine der bedeutendsten Barockschlossanlangen Europas -, bilden die Kulisse für das Würzburger Mozartfest. Mozart und Würzburg? Bringt man nicht unbedingt zusammen. Etwa eine Marketingidee des unterfränkischen Tourismusverbands, einhergehend mit Mozart-Klößen, Mozart-Bratwürsten und einem Silvaner à la Stanzerl? I wo. Das sähe den bodenständigen Franken gar nicht ähnlich und hätten sie auch nicht nötig.

Würzburg mit seinem Main und Wein lohnt sich auch so. Das Festival geht auf den Konservatoriumsdirektor und Dirigenten Hermann Zilcher zurück, der bei einem Mozart-Konzert mit Streichorchester im Juli 1921 im Kaisersaal eine Art Offenbarung erlebte und eine so "innige Vermählung zwischen Ton, Architektur und Farbe" wahrnahm, dass dieses Erlebnis zum Gründungsmythos der "Mozartwoche in der Residenz" wurde, später umbenannt in Mozartfest und inhaltlich wie zeitlich erweitert. In diesem Jahr dauert es vier Wochen, bietet neben klassischen Konzerten auch Experimentelles (etwa in der Reihe "unexpected") und geht noch bis zum 2. Juli. Geleitet wird es seit 2013 von einer Frau, Evelyn Meining. Mozart darf bei ihr auch in Richtung "Exotikum" gehen.

Atmosphärisch ein echter Höhepunkt ist die traditionelle "Nachtmusik" im Hofgarten (noch einmal am 23. Juni): ein Orchesterkonzert unter freiem Himmel, gespielt vor der Rückfassade der für diesen Zweck festlich illuminierten Prachtresidenz. Der barocke Garten wird dafür bestuhlt und mit Lichtern geschmückt. Wenn dann Mozarts "Kleine Nachtmusik", aber schon auch Anderstönendes wie von Dvorák, Astor Piazzolla oder demnächst Paul Creston in den Himmel steigt, möchte man die Welt umarmen: Du bist so schön. Oder, wie man auf gut Fränkisch lobt: Bassd scho. Christine Dössel

Film: "Divertimento" über Zahia Ziouani

Oulaya Amamra in der Rolle der Zahia Ziouani. (Foto: Prokino Filmverleih)

Der Maestro duldet keine Widerrede: "Dirigent ist kein Beruf für eine Frau", sagt Sergiu Celibidache der 17-jährigen Zahia, als sie ihm ihren Berufswunsch mitteilt. Doch die Migrantentochter aus den Banlieues von Paris lässt sich nicht unterkriegen, sie überzeugt Celibidache von ihrem Talent und erträgt die Diskriminierungen der Großbürgerkinder aus dem Konservatorium. Das Kino liebt solche Ermächtigungsgeschichten, der Spielfilm "Divertimento" erzählt sie. Er basiert auf wahren Begebenheiten, aus den Jugendjahren der Dirigentin Zahia Ziouani. Ihr eigenes Orchester heißt ebenfalls "Divertimento", es vereint Musiker aus verschiedenen sozialen Schichten und bringt Menschen aus benachteiligten Verhältnissen Musik näher. Es ist eine Erfolgsgeschichte: Das Orchester wird dieses Jahr 25 Jahre alt. Josef Grübl

Comic: "Asterix" in Leichter Sprache

Aus der "Piraten-Galeere" des Originals wird im "Asterix"-Band in Leichter Sprache ein "Piraten-Schiff" (Foto: Asterix®-Obelix®-Idefix / © 2023 Les Editions Albert René)

Beim Teutates! Zu den Special Olympic World Games in Berlin, den Spielen der geistig und mehrfach behinderten Menschen, die an diesem Samstag beginnen, erscheint ein "Asterix"-Band in Leichter Sprache. Der Verlag Egmont Ehapa gibt den Comic "Asterix bei den Olympischen Spielen" in einer Sonderausgabe mit einer Auflage von 20 000 Exemplaren heraus, mit einfachen Sätzen und nur wenigen Fremdwörtern. Aber sind "Paf!", "Zack!" und "Peng!" nicht leichte Sprache genug? Spinnen die jetzt, diese Verleger? Müssen jetzt auch Comics "übersetzt" werden? Grübel. Oder in den Worten der Gallier: "???" - "!!!" Der Inhalt der Sonderausgabe ist jedenfalls derselbe wie im Original. Und wer den Klassiker von René Goscinny und Albert Uderzo kennt, weiß, dass Höhepunkt des Comics ein Rennen ist, bei dem ein kleiner Mann in gestreiften Boxershorts von allen anderen, viel größeren und athletischeren Läufern, überholt wird, aber dann doch den Wettbewerb gewinnt. Das passt zur spezialolympischen Idee. Was in der Sonderausgabe anders ist? Aus einer "Piraten-Galeere" wird zum Beispiel ein "Piraten-Schiff" und aus einem "Gelage" ein "Fest-Mahl". Die spinnen, die Verleger? Von wegen! Klar, geht in der Leichten Sprache etwas verloren - aber es ist auch viel gewonnen. "Jeder Mensch sollte", schreibt Egmont-Verlagsleiter Wolf Stegmaier, "unabhängig von individuellen Fähigkeiten, die Chance haben, sich neue Welten zu erschließen. Gerade auch durch Lesen!" Darauf ein Wildschwein! Martina Knoben

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