Gipfel in Brüssel:EU beschließt Beitrittsgespräche mit Ukraine

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EU-Ratspräsident Charles Michel verkündet vor der Presse die überraschende Nachricht. (Foto: Johanna Geron/Reuters)

Wie in Brüssel 26 Staats- und Regierungschefs versuchen, Viktor Orbán in der Ukraine-Politik auf Linie zu halten - und wie Olaf Scholz das Problem mit einer überraschenden Idee löst.

Von Jan Diesteldorf, Josef Kelnberger und Hubert Wetzel, Brüssel

Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben bei ihrem Gipfeltreffen am Donnerstag in Brüssel beschlossen, formelle Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu beginnen. Das teilte EU-Ratspräsident Charles Michel am Abend mit. Auch mit der Republik Moldau sollen Beitrittsgespräche aufgenommen werden. Die "historische" Entscheidung sei "ein klares Zeichen der Hoffnung" für die Bevölkerungen in den Ländern, so Michel.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij, der bei dem Gipfel über Video zugeschaltet gewesen war und vehement für die Entscheidung geworben hatte, reagierte umgehend: "Ich danke allen, die sich dafür eingesetzt haben, dass das passiert, und allen, die dabei geholfen haben", schrieb er bei X. Selenskijs besonderer Dank ging an Bundeskanzler Olaf Scholz, der eine maßgebliche Rolle bei den erfolgreichen Verhandlungen in Brüssel gespielt hatte: "Deutschlands Unterstützung für die Ukraine wächst von Tag zu Tag. Wir sehen das und wir werden uns immer daran erinnern."

Der Ausweg aus dem Dilemma war diplomatisch-elegant - und sehr europäisch

Mit der Entscheidung hat die EU knapp ein diplomatisches Debakel vermieden. Nur wenige Stunden zuvor hatte es noch so ausgesehen, als könnte der ungarische Regierungschef Viktor Orbán die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen im Alleingang blockieren. Damit hätte er sich nicht nur gegen die EU-Kommission gestellt, die diesen Schritt vor einigen Wochen empfohlen hatte. Er hätte auch eine Entscheidung verhindert, die alle restlichen 26 EU-Regierungen unbedingt wollten, er hätte die bisherige Geschlossenheit der EU im Ukraine-Konflikt gesprengt, er hätte die Ukraine massiv düpiert, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin einen politischen Sieg geschenkt - und sich selbst in der EU in einer äußerst wichtigen Frage isoliert.

Soweit wolle Orbán dann offenbar doch nicht gehen. Nachdem er in den vergangenen Wochen - und noch am Donnerstagmorgen bei seiner Ankunft in Brüssel - jedoch öffentlich betont hatte, dass Beitrittsgespräche mit der Ukraine verfrüht seien und er seine Meinung nicht ändern werde, konnte er auch nicht einfach umschwenken.

Der Ausweg aus dem Dilemma war diplomatisch-elegant - und sehr europäisch. Dem Vernehmen nach wurde das Vorgehen maßgeblich von Bundeskanzler Scholz ersonnen, in Abstimmung mit Ratspräsident Michel: Orbán verließ während der Beratungen für einige Augenblicke den Raum, ohne einen Kollegen oder eine Kollegin mit seiner Vertretung zu beauftragen. Die 26 verbliebenen Staats- und Regierungschefs konnten dann im Konsens die Passage im Gipfeldokument absegnen, wonach die EU die Eröffnung von Beitrittsgesprächen mit der Ukraine und Moldau beschließt. Dann kam Orbán in den Sitzungssaal zurück. Aus EU-Diplomatenkreisen hieß es, Orbáns Abwesenheit sei "vorab besprochen und konstruktiv" gewesen.

Orbán selbst bestätigte diesen für ihn gesichtswahrenden Ablauf, der ihm eine Enthaltung oder ein Veto ersparte, kurze Zeit später bei X. Er nannte den Beginn von Beitrittsgesprächen mit der Ukraine "eine schlechte Entscheidung" und fügte hinzu: "Ungarn hat an dieser Entscheidung nicht teilgenommen." Nach Angaben von EU-Vertretern ist das Verfahren legal - der Beschluss wurde vom Rat der Staats- und Regierungschefs angenommen, ohne dass ein Mitgliedsland widersprochen hätte.

"Es ist uns wichtig, dass wir jetzt die Weichen stellen, die den Beitrittsprozess voranbringen."

Vor Beginn des Gipfeltreffens hatten alle Staats- und Regierungschefs Orbán unzweideutig wissen lassen, dass sie die Eröffnung der Beitrittsgespräche beschließen wollen. Zwar muss die Ukraine, bevor die Gespräche tatsächlich anfangen, noch einige letzte Bedingungen erfüllen. Im März wird die EU-Kommission dazu eine weitere Bilanz vorlegen. Aber das grundsätzliche politische Bekenntnis der EU zu den Verhandlungen sollte nach dem Willen der meisten Unionsmitglieder beim Dezember-Gipfel fallen. "Es ist uns wichtig, dass wir jetzt die Weichen stellen, die den Beitrittsprozess voranbringen hier in Europa und dass das auch eine Entscheidung ist, die von allen Mitgliedsländern getragen wird", sagte Bundeskanzler Scholz vor Beginn des Gipfels.

Scholz hatte Orbán am Donnerstagmorgen noch zusammen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, EU-Ratspräsident Michel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beiseitegenommen und zum Einlenken gedrängt. Zunächst sah es nicht so aus, als hätte das Treffen Erfolg - Orbán blieb zumindest bei seinem öffentlichen Auftritt bei seiner ablehnenden Haltung. Wenige Stunden danach folgte dann völlig überraschend die Einigung.

Hartleibig zeigte sich Orbán Donnerstagnacht jedoch bei den künftigen Finanzhilfen für die Ukraine. Den von allen EU-Ländern mitgetragenen Plan, die Ukraine in den kommenden vier Jahren mit 50 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt - davon 33 Milliarden Euro an Krediten, 17 Milliarden Euro an Zuschüssen - vor dem Bankrott zu bewahren, lehnte er weiterhin ab. Allerdings können die anderen Mitgliedsländer das Geld notfalls ohne Ungarn außerhalb des EU-Haushalts aufbringen.

Bis Freitag um halb drei Uhr morgens wurde verhandelt - letztlich ohne Erfolg. Es sei nun geplant, dass sich die Staats- und Regierungschefs im Januar erneut mit dem Thema beschäftigten, bestätigten mehrere Diplomaten, und auch der ungarische Regierungschef selbst verschickte noch eine triumphierende Nachricht via X: Sowohl die zusätzliche Finanzhilfe für die Ukraine als auch die Neufassung des EU-Etats, des sogenannten Mehrjährigen Finanzrahmens, bis 2027 habe er mit seinem Veto gestoppt, schrieb er. Wie die Ukraine bis dahin mit Geld versorgt werden kann, muss nun erst geklärt werden.

Am späten Donnerstagabend verständigten sich die EU-Staaten noch auf ein neues Paket mit Sanktionen gegen Russland. Das Paket sieht vor, ein Einfuhrverbot für russische Diamanten zu verhängen und den zuletzt kaum noch wirkenden Preisdeckel für russische Ölexporte in Drittstaaten zu verschärfen. Zudem sind für weitere Güter Handelsbeschränkungen sowie Strafmaßnahmen gegen Personen und Organisationen geplant, die den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützen.

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