Das Politische Buch:Tod am Eisernen Vorhang im "Bruderstaat"

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Befreundetes Ausland: Viele DDR-Bürger reisten zur Erholung in sozialistische Nachbarstaaten, manche aber versuchten von dort aus die Flucht in den Westen. (Foto: Archiv Mehrl/dpa)

Viele fluchtwillige DDR-Bürger glaubten irrigerweise, die Außengrenzen des Ostblocks seien leichter zu überwinden als die innerdeutschen Sperranlagen. Ein Team um den Politologen Jochen Staadt hat die Biografien der getöteten Flüchtlinge erforscht.

Rezension von Norbert F. Pötzl

Seit dem Mauerbau 1961 waren Fluchten aus der DDR nur unter Lebensgefahr möglich. Schießbefehl, Selbstschussanlagen, Minen und immer weiter perfektionierte Sperrsysteme machten ein Entkommen über die Grenzen zur Bundesrepublik und nach Westberlin zum tödlichen Risiko. Tausende versuchten es deshalb auf anderen Wegen. Sie glaubten, die Grenzen der Tschechoslowakei, Bulgariens, Rumäniens und Ungarns zum blockfreien Jugoslawien, zur Bundesrepublik und zu Österreich seien weniger stark abgeriegelt als die "Staatsgrenze West" der DDR. Dies war jedoch oft ein tödlicher Irrtum.

An den Außengrenzen des Ostblocks verloren zwischen Juli 1963 und August 1989 insgesamt 37 Menschen ihr Leben, 18 DDR-Flüchtlinge starben an den Binnengrenzen zwischen sozialistischen Staaten. Sie wurden von Grenzwachen erschossen, durch Stromschläge an Grenzzäunen getötet, von Grenzhunden tödlich verletzt oder scheiterten bei Versuchen, mit ihren Autos die Sperrschranken zu durchbrechen; sie ertranken in Grenzflüssen, erstickten in ihren Verstecken in Fluchtautos oder erfroren in unwegsamem Gelände. Acht DDR-Bürger begingen vor der drohenden Festnahme oder nach erfolgter Inhaftierung Suizid. Doch nicht nur DDR-Flüchtlinge fielen dem Eisernen Vorhang zum Opfer, sondern seit 1948 auch 17 Bundesbürger.

Ergreifende Schicksale hinter der Statistik

Dies ist das Resümee eines Teams des Forschungsverbunds SED-Staat an der Freien Universität Berlin um den Politikwissenschaftler Jochen Staadt. Durch die gründlich recherchierten, erstaunlich dichten und detailreichen Schilderungen der Lebensläufe und Fluchtmotive kommen hinter den nüchternen statistischen Zahlen ergreifende menschliche Schicksale zum Vorschein. In Kooperation mit wissenschaftlichen Partnern in Mittelost- und Südosteuropa hat das Team umfangreiches Quellenmaterial ausgewertet, von Geheimdienstberichten und diplomatischen Noten bis zu privaten Korrespondenzen, zeitgenössischen Zeitungsartikeln und Zeitzeugengesprächen. So ist dieses Buch ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur in einer Zeit, in der das DDR-Regime von manchen ostdeutschen Autorinnen und Autoren verharmlost wird. Der Band über diese weniger bekannten Ereignisse an den Außengrenzen des ehemaligen Ostblocks ergänzt eine 2017 publizierte Untersuchung des Forschungsverbunds über die Todesfälle an der innerdeutschen Grenze.

Jochen Staadt (Hg.) unter Mitarbeit von Jan Kostka und Hannes Puchta: Die deutschen Todesopfer des Eisernen Vorhangs 1948-1989. Ein biografisches Handbuch. Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2023. 504 Seiten, 38 Euro. (Foto: Mitteldeutscher Verlag)

Die Befunde verdeutlichen einmal mehr den menschenverachtenden Zynismus der kommunistischen Funktionäre und Sicherheitsorgane. Angehörige, die nach den Todesumständen fragten und sich um die Überführung der Leichname in die Heimat bemühten, wurden von DDR-Amtsträgern schikaniert und mit rotzigen Antworten abgefertigt. Die mit den Todesfällen befassten DDR-Diplomaten vertraten bei den Verhandlungen mit ihren Ansprechpartnern in den "Bruderstaaten" nie die Interessen der Hinterbliebenen. Ihnen ging es in erster Linie um eine möglichst reibungslose Abwicklung der Formalitäten. Beispielsweise drang 1972 der Zweite Sekretär der DDR-Botschaft in Rumänien im Bukarester Innenministerium auf eine unverzügliche Beisetzung des Todesopfers, da der Flüchtling "seinen Staat verraten hat und dass deshalb unsererseits kein Interesse an der Leichenüberführung in die DDR besteht". Ein bulgarischer Militärstaatsanwalt wiederum fand es "unzumutbar, unmittelbar neben friedlichen Bürgern Verbrecher zu beerdigen".

Erschossen trotz erhobener Hände

Vor allem bulgarische Behörden tischten selbst ihren ostdeutschen Kollegen mitunter Lügen auf. So stellte sich etwa 1980 bei einer Nachobduktion in Leipzig heraus, dass der Maler Detlef Heiner und der Elektriker Andreas Stützer, beide 19 Jahre alt, an der Grenze zu Griechenland nicht auf der Flucht vor ihren Verfolgern erschossen worden waren - die tödlichen Schüsse hatten sie von vorn getroffen, den einen ins Gesicht, den anderen mit erhobenen Händen. Den Hinterbliebenen wurden diese Erkenntnisse natürlich nicht mitgeteilt.

Mancher Fall führte zu diplomatischen Demarchen und öffentlichen Protesten, weil die Flüchtlinge bereits westliches Territorium erreicht hatten, als die tödlichen Schüsse sie trafen. Der Kraftfahrer Richard Schlenz, 28, aus Leipzig zum Beispiel befand sich bereits jenseits der Grenze, aber die tschechoslowakische Grenzschutzbrigade manipulierte Tatortfotos mit dem Fluchtverlauf, indem sie die Position des Flüchtlings falsch markierte.

Wo gehts Richtung Westen? DDR-Bürger informieren sich im August 1989 vor der deutschen Botschaft in Budapest auf einer Landkarte über den Verlauf der grünen Grenze. Doch selbst als die Grenzen schon offen waren, gab es noch Tote. (Foto: Wolfgang Kumm/dpa)

Tragisch ist, dass noch kurz vor dem Mauerfall DDR-Flüchtlinge ums Leben kamen. Der Architekt Kurt-Werner Schulz, 36, aus Weimar reiste mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen sechsjährigen Sohn am 18. August 1989 nach Ungarn. Am nächsten Tag gelang Hunderten DDR-Bürgern eine Massenflucht beim "Paneuropäischen Picknick" nahe Sopron. Doch die kurzzeitige Grenzöffnung erwies sich als trügerisch. Am 21. August fiel die Familie einer ungarischen Grenzstreife auf. Frau und Kind hatten die Sicherungsanlagen kriechend bereits überwunden, als Schulz von einem Grenzsoldaten in ein Handgemenge verwickelt wurde. Ein Schuss aus dessen Dienstpistole traf Schulz in den Mund, er war sofort tot.

Unter den letzten Opfern der deutschen Teilung waren vier junge Männer, die im Oktober 1989 auf dem Weg zur westdeutschen Botschaft in Warschau in der Oder ertranken, weil sie die Strömung des Grenzflusses unterschätzt hatten. Der letzte dokumentierte Fall schließlich ist der des 22-jährigen Unteroffiziers Jörn Dziwog aus Halle (Saale). Er machte sich im September 1989, als die Regierung in Budapest die Grenze zu Österreich bereits offiziell geöffnet hatte, auf den Weg nach Ungarn. Da Dziwog eine versuchte Anwerbung als Stasi-Spitzel abgewehrt hatte und den DDR-Behörden als "gefährdeter Bürger" galt, erhielt er keine Reiseerlaubnis; deshalb versuchte er, sich über die grüne Grenze durchzuschlagen. Erst im Juni 1990 wurde seine Leiche in einem slowakischen Bach gefunden, 200 Meter vor der ungarischen Grenze. Bei der Obduktion wurden keine Anzeichen äußerer Gewalt festgestellt; offenbar war er an Erschöpfung gestorben.

Norbert F. Pötzl ist Publizist. Er hat unter anderem Biografien über Erich Honecker und Wolfgang Vogel sowie das Buch "Der Treuhand-Komplex" verfasst.

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