Das Politische Buch:Balancieren am Abgrund

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Meeting mit Abstand: Joe Biden und Xi Jinping während einer Besprechung im November 2021. (Foto: Mandel Ngan/AFP)

Wie wird sich die Rivalität zwischen China und den USA entwickeln? Unsere Rezensentin hat vier Sachbücher gelesen und verglichen: Analysen eines Fernost-Reporters, Geraune vom dritten Weltkrieg, die Roadmap eines Mandarin-Kenners und einen großen Wirtschaftsthriller über ein Mini-Objekt .

Rezension von Viola Schenz

Die westliche Welt steht weiter im Bann von Ukraine- und Nahostkriegen, von Flüchtlings- und innenpolitischen Krisen - derweil wachsen im Fernen Osten militärische Spannungen. China ignoriert mit Militärmanövern Seegrenzen und provoziert seine Nachbarn, es baut sich künstliche Inseln im Südchinesischen Meer; vor allem reklamiert es das souveräne, demokratische Taiwan für sich, droht mit Invasion und Zwangsanschluss, nennt das eine "heilige patriotische Pflicht".

"China rüstet dramatisch auf, bei der Marine, den Raketenbeständen, die schon heute die größten der Welt sind, und bei den Nuklearwaffen", schreibt Matthias Naß. "Das militärische Potential der Volksrepublik wird zunehmend als bedrohlich empfunden. In Japan wie in Indien oder in Australien." Die USA befinden sich längst in Alarmbereitschaft, und auch Europa beobachtet inzwischen nervös, was sich in Ostasien zusammenbraut.

Matthias Naß: Rücksichtslose Machtpolitik

Der Zeit-Journalist, von 1998 bis 2010 deren stellvertretender Chefredakteur, seit 2011 internationaler Korrespondent, ist Kenner der Region und der atlantisch-chinesischen Beziehungen, die sich "dramatisch verschlechtern". Die Volksrepublik betreibe eine rücksichtslose Machtpolitik, sie habe die Repression im eigenen Land verschärft und ihre Interessen nach außen mit aller Härte durchgesetzt , "selbst gegenüber einem so kleinen Land wie Litauen, nur weil ihr dessen freundliche Haltung zu Taiwan nicht gefiel". Sie habe mit dem guten Willen, der ihr aus Europa entgegengebracht wurde, Schindluder getrieben. "Das rächt sich nun. Und eint den Westen", urteilt Naß.

Auch als Buchautor beweist der 71-Jährige seine tiefen Kenntnisse der Region, er schätzt Entwicklungen und Ereignisse plausibel ein, seine Analyse der Konfliktlage liest sich verständlich und schwurbellos. Allerdings ist manches, was einst Bedeutung hatte, vom Gang der Geschehnisse überholt. Will man im Herbst 2023 noch einmal ausführlich den Besuch der damaligen Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi im August 2022 in Taiwan nachgezeichnet bekommen? Oder die Teilnahme der ehemaligen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer an einer internationalen Konferenz im Frühjahr 2021 auf der Pazifikinsel Guam? Nur weil Naß damals als Korrespondent schon ergiebig darüber berichtet hatte? Zumal dieses Kapitel seinerzeit wortgleich als Reportage in der Zeit erschienen war.

Mathias Naß: Kollision. China, die USA und der Kampf um die weltpolitische Vormacht im Indopazifik. Verlag C.H. Beck, München 2023. 282 Seiten, 26,90 Euro. E-Book: 19,99 Euro. (Foto: C.H. Beck)

Naß erinnert an den "Rausch", in dem die deutsche Wirtschaft seit Beginn der Reformen Deng Xiaopings Ende der 1970er-Jahre nach Osten "stürmte". Und an eine Politik, die nach Kräften half, Türen zu öffnen. "Wenn es um China ging, verstanden sich alle Kanzler als Vorstandsvorsitzende der Deutschland AG. Brachen sie nach Peking auf, drängten sich im Regierungsflieger die Spitzen der wichtigsten Dax-Konzerne. (...) Kritik an den Menschenrechtsverletzungen wurde als unverbesserliches 'Gutmenschentum' verspottet. Deutsche Chinapolitik war Wirtschaftsförderungspolitik."

Was die Anbiederung und Unterwürfigkeit deutscher Konzernchefs bei ihren China-Geschäften angeht, fällt Naß' Bilanz indes insgesamt milde aus. Man vermisst den Hinweis darauf, dass kaum ein CEO seinen Status für eine angemessene Kritik an der Unterdrückung und Verfolgung ethnischer Minderheiten oder politisch Andersdenkender nutzte.

Taiwan wird der Testfall sein, ob die Vereinigten Staaten und China zu einer friedlichen Koexistenz finden können, resümiert Naß. Nirgendwo sei die Gefahr größer, dass aus einem Regionalkonflikt ein Weltkrieg werde. Er zitiert den australischen Politiker Kevin Rudd: Schon ein regionaler Krieg zwischen den beiden Ländern würde ausreichen, um "wahrhaft seismische geopolitische Verschiebungen rund um die Welt" auszulösen.

Kevin Rudd: Handlungsanweisungen an Washington

Ebendieser Rudd veröffentlicht auch zum Thema. Auf gut 250 Seiten zeichnet er die Genese der chinesisch-amerikanischen Beziehungen nach, ebenso die Rolle Europas und anderer Weltregionen. Diese gekürzte Fassung seines "Avoidable War" von 2022 hätte durchaus weiter gestrafft werden können, insbesondere die 25-seitige, geschwätzige Einleitung. Australiens Ex-Premier (2007 bis 2010 und 2013) amtiert seit diesem Jahr als Botschafter in den USA. Der 66 Jahre alte Sinologe ist berufen für das Thema: Er hat in beiden Ländern gelebt, studiert, gearbeitet, er traf Xi Jinping und diverse US-Präsidenten, er bewundere beide Nationen gleichermaßen, und er spricht, wie er unermüdlich betont, fließend Mandarin.

Kevin Rudd: Der vermeidbare Krieg. Die Gefahr eines katastrophalen Konflikts zwischen den Vereinigten Staaten und Xi Jinpings China. Aus dem Englischen von William Boer. Weltkiosk-Verlag, Berlin 2023. 256 Seiten, 22 Euro. (Foto: Weltkiosk)

Mit der Position des wissenden Beobachters und Deuters gibt sich Rudd nicht zufrieden. "Der vermeidbare Krieg" liest sich wie ein Mix aus politischem Vermächtnis, Handlungsanweisung an Washington und Peking und Bewerbungsschreiben für noch höhere Weihen. Hier schreibt der (Ex-)Politiker, der das globale Geschehen durchblickt - "Wie schon erwähnt, wird das chinesische politische Denken im Westen nur selten richtig verstanden" -, der elder statesman, der es besser könnte, wenn man ihn nur ließe: "Als jemand, der Mandarin spricht, war ich in der Lage, als Premier- und Außenminister Australiens direkt mit meinen Gegenübern in der chinesischen Regierung und mit anderen Funktionären in ihrer Sprache zu sprechen. Westliche Führungsper­sönlichkeiten werden dies in Zukunft ebenfalls tun müssen." Rudd versteht sein Buch als "eine Roadmap, die den beiden großen Nationen helfen soll, einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu finden", das aber gerät oberlehrerhaft bis arrogant.

Sie sprechen immerhin miteinander: US-Außenminister Antony Blinken (links) und sein Amtskollege Wang Yi (rechts) in Washington Ende Oktober 2023. (Foto: Saul Loeb/AFP)

Rudd analysiert Chinas krude Strategien mitunter brutal klar, und er vertritt vernünftige Standpunkte. Doch die verlieren sich oft in Schachtelsätzen und umständlichem Deutsch, etwa: "Basierend auf dem, was über amerikanische und chinesische Kriegsspiele öffentlich berichtet worden ist, ist die Aussicht der Vereinigten Staaten, in einem solchen Krieg einen ent­scheidenden 'Sieg' davonzutragen, gleichfalls weniger wahrschein­lich als umgekehrt."

Es sei kein akademischer Text, betont der Autor, es gibt weder Fußnoten noch eine Bibliographie. Jedoch: Wer das Weltgeschehen bewertet, sollte Belege mitliefern. Rudds Eitelkeit gipfelt in einem Interview-Schlusskapitel ("Fünf Fragen an Kevin Rudd"), ohne Hinweis, wer ihn hier befragte. Man mutmaßt also, dass Rudd mit sich selbst sprach. Dabei gelangte er aber zu keinen anderen Erkenntnissen als bereits in seiner ausschweifenden Einleitung. "Ich wünschte, ich hätte dieses Buch nicht schreiben müssen", lautet dort Rudds Eingangssatz. Nun, möchte man entgegnen, es hat ihn auch niemand gezwungen.

Josef Braml, Mathew Burrows: Vier apokalyptische Reiter

Stoff für Untergangspropheten liefern Josef Braml und Mathew Burrows. "Wie China und die USA in einen neuen Weltkrieg schlittern" lautet ihr Thema. Die zwei Mitarbeiter von Thinktanks vergleichen die aktuelle Weltlage mit dem Vorabend des Ersten Weltkriegs. Damals regierten Traum- und Schlafwandler Europa, so die Autoren, und heute tappten die Mächte ebenfalls auf einen Abgrund zu, Russlands Überfall auf die Ukraine sei vielleicht nur der Beginn gewesen. Der Politikberater Braml und der ehemalige CIA-Mitarbeiter Burrows entwerfen düstere Szenarien, raunen über die "herannahenden vier apokalyptischen Reiter der Eroberung, des Krieges, des Wiederauflebens von Armut und Hungersnot und des Todes unseres Planeten". Seien es die Finanzkrise, der Kollaps Libyens und Syriens, die Atomkatastrophe in Fukushima, Hurrikan Sandy, der Konflikt in der Ukraine, der Aufstieg des "Islamischen Staates", die Welle von Migranten, Brexit, Donald Trumps Sieg bei den US-Präsidentschaftswahlen oder die Überschwemmungen im Ahrtal: Angesichts zahlreicher Krisen, Katastrophen und Konflikte zeichne sich ein globaler Krieg ab.

Der historische Vergleich will sich indes nicht einstellen, sondern er hinkt durch die 160 Seiten. So gab es freilich damals wie heute Drohszenarien, etwa "die Seerivalität zwischen Deutschland und Großbritannien vor dem Ersten Weltkrieg" und damit "ein gut dokumentierter historischer Wettbewerb, der einige besorgniserregende Ähnlichkeiten mit den heutigen chinesisch-amerikanischen Wirtschafts- und Militärkriegsspielen aufweist", doch sind die Bedingungen heute eben völlig andere. Das bemühte Konstruieren von Parallelen hilft vor allem bei einer Problemlösung nicht weiter, und so entwickelt sich in diesem Wimmelbilderbuch keine schlüssige Argumentation. Braml und Burrows hüpfen zwischen Epochen, Ereignissen, Kontinenten, Ideologien, Politikern.

Josef Braml, Methew Burrows: Die Traumwandler. Wie China und die USA in einen neuen Weltkrieg schlittern. Verlag C.H. Beck, München 2023. 198 Seiten, 18 Euro. E-Book: 12,99 Euro. (Foto: C.H. Beck)

Zur Wackel-These gesellt sich ein so umständliches wie unbeholfenes Deutsch, Beispiel: "Die große Kluft zwischen den Lebensstandards wird von der westlichen Öffentlichkeit nicht wirklich verstanden, nur die Tatsache, dass sich die US-amerikanische und die westliche Mittelschicht als Verlierer des Globalisierungsspiels fühlen und andere, insbesondere China, so wahrgenommen werden, als hätten sie gut bezahlte Arbeitsplätze in der Produktion gestohlen, die das Fundament einer komfortablen Existenz der Mittelschicht im industrialisierten Westen waren." Manche Sätze bleiben auch nach mehrmaligem Lesen unverständlich ("Es gibt die spürbare Sorge, dass Amerikas Macht gegenüber seinem Herausforderer China relativ gesehen abnimmt, obwohl das Thema in den meisten Elitekreisen tabu ist."), andere sind unfreiwillig komisch ("einen Kalten Krieg anzuheizen"). Fehlerhafte, sinnverdrehende Konjunktive, falsche Präpositionen, unklare Zeitbezüge und leidige Wortwiederholungen vermiesen die Lektüre zusätzlich. In diesem Labyrinth verlieren sich die eigentlichen, ernsten Fragen: Taiwan-Krise, Hyper-Nationalismus, wirtschaftliche Verwundbarkeit Chinas, Drohgebärden im Südchinesischen Meer.

Chris Miller: Abhängigkeiten vom Mikrochip

Der amerikanische Historiker Chris Miller liefert das mit Abstand beste Buch dieser Sammelbesprechung, und er tut einem den Gefallen, sich im amerikanisch-chinesischen Konflikt auf einen Aspekt zu konzentrieren, beziehungsweise auf ein winziges Objekt: den Computerchip. Jene Teilchen, die mittlerweile in fast allen Elektrogeräten stecken vom Smartphone, Fernseher, Kühlschrank, Zahnarztbohrer bis zum Auto- und Raketenantrieb.

Computerchips beziehungsweise Halbleitern verdanken wir unsere moderne Welt, wir hängen ab "von Trillionen von Transistoren und einer Handvoll unersetzlicher Firmen", so Miller, und das Schicksal ganzer Nationen von ihrer Fähigkeit, das Potenzial der Mikroelektronik auszuschöpfen. So beruhe die militärische Vormachtstellung der USA großteils auf dem effizienten Einsatz von Chips in der Rüstungsindustrie. Deren Produktion allerdings kontrolliert nur eine sehr überschaubare Zahl von Firmen. Der kalifornische Tech-Konzern Apple etwa stelle "nicht einen einzigen dieser Chips" her.

Chris Miller: Der Chip-Krieg. Wie die USA und China um die technologische Vorherrschaft auf der Welt kämpfen. Aus dem Englischen von Hans-Peter Remmler und Doro Siebecke. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2023. 500 Seiten, 30 Euro. E-Book: 27,99 Euro. (Foto: Rowohlt)

Kein anderer Bereich der Wirtschaft sei derart abhängig von so wenigen Firmen. Chips aus Taiwan haben einen Anteil von 37 Prozent an der weltweit jährlich neu produzierten Rechenleistung. Angesichts Xi Jinpings Drohungen einer Invasion steht im Fernen Osten also einiges auf dem Spiel. Die Weltwirtschaft könne in diesem gefährlichen politischen Konflikt in Geiselhaft geraten. "Schon eine Teilblockade durch chinesische Truppen hätte verheerende Folgen", schreibt Miller. Ein einziger Raketenangriff auf die modernste TSMC-Chipfabrik könnte leicht zu Schäden in Höhe von Hunderten Milliarden Dollar führen.

Noch beherrschten die USA (beim Design) und ihre Verbündeten (Taiwan, Südkorea, Japan, Niederlande) den Markt für Hochleistungs-Siliziumchips, die dem Silicon Valley seinen Namen gaben. "Diese Vormachtstellung ist jedoch bedroht", warnt der Wirtschaftshistoriker, "China gibt inzwischen jedes Jahr mehr für den Import von Chips aus als für Öl." Um die Halbleiterindustrie aus dem Griff Amerikas zu befreien, investiere das Land Milliarden Dollar in die Entwicklung der eigenen Chiptechnologie: "Ist diese Strategie erfolgreich, wird Peking die Weltwirtschaft umgestalten und das militärische Gleichgewicht neu justieren können."

Das weiß auch Washington und reagiert entsprechend. Präsident Joe Biden schmiedet seit 2022 eine internationale Allianz, um China vom Zugang zur neuesten Chip-Generation abzuschneiden. Gelingt ihm das, ist Pekings Plan der globalen Technologieführerschaft von der Robotik bis zur Raumfahrt gefährdet.

In guter amerikanischer Manier erklärt Miller Dimension und Funktion von Chips, Halbleitern und Transistoren laienverständlich und kurzweilig. "Der Chip-Krieg" gleicht passagenweise einem Wirtschaftsthriller, zudem besticht das Buch mit seiner praktischen Handhabung: gut erläuterte Karten, Fotos, ein umfangreiches Glossar, Register und Personenverzeichnis erleichtern Lektüre und Gewöhnung an ein Fachvokabular. Und wem die Konzern- und Unternehmerbiografien zu detailliert sind, kann sie dank der logischen Gliederung überblättern. Zu Recht ergatterte die Originalausgabe 2022 die Auszeichnung " Financial Times Business Book of the Year".

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