Das Politische Buch:Höchste Zeit zum Handeln

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Hat noch viel vor, auch wenn sein Porträt bereits im Museum der Kommunistischen Partei hängt. Dass das für den Westen nicht unbedingt Gutes verheißt, wird immer klarer. Staatschef Xi Jinping. (Foto: Noel Celis/AFP)

Die Gefahr, die von Peking ausgeht, ist längst erkannt, aber was sind die Konsequenzen? Janka Oertel räumt auf mit all den Fantasien über China, die noch immer in den Köpfen stecken. Pflichtlektüre für alle, die nicht im Selbstbetrug verharren wollen.

Rezension von Kai Strittmatter

China ist anders. Klar, Binsenwahrheit. China ist anders als wir, es ist anders als Indien, es ist völlig anders als Taiwan, wo auch viele Chinesen leben, und zudem ist das China von heute, das von Xi Jinping, fundamental anders als das China vor ihm. Genau das ist Teil unseres Problems. Ebenso sehr Teil des Problems ist, dass die meisten Leute, von denen man den Satz "China ist anders" hört, ihn aus der Schublade ihrer alten Gewissheiten kramen und dass er ihnen, inmitten all der Weltenunruhe, als Akt der Selbsthypnose dient. Meist meint er nämlich, "China ist anders als Russland", und soll Entwarnung signalisieren. Rationaler, glauben sie, sei dieses China, pragmatischer, stets der Logik des fruchtbaren Wirtschaftens verpflichtet und militärischen Abenteuern abhold.

Man glaubt bei der Lektüre von Janka Oertels "Ende der China-Illusion" förmlich zu sehen, wie die Autorin auf ihrem Stuhl hin und her rutscht und am liebsten aufspringen würde und jeden Einzelnen an den Schultern rütteln möchte: Schaut hin! Stattdessen hat sie dieses Buch geschrieben, hat das Hinschauen für uns erledigt und räumt auf mit all den Fantasien über China, die noch immer in den Köpfen stecken. Oertel ist Sinologin und Politikwissenschaftlerin, seit Jahren viel präsente China-Beobachterin im Berliner Betrieb, eine der Klügsten. Und ihr Buch kommt keinen Moment zu früh.

Von wegen "Win-win-Kooperation"

Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass außer dem Klimawandel der Umgang mit China die drängendste Aufgabe Europas und der demokratischen Welt sein wird. Eine epochale Herausforderung. Ähnlich wie beim Klimawandel allerdings hat sich die Erkenntnis der Herausforderung bislang kaum in adäquates Handeln umgesetzt. Tatsächlich gibt es noch einige, die sich willig der Blindheit ergeben, die deutschen Autobauer etwa, die eben erst bei der IAA in München den Ausbau ihrer Präsenz in China feierten und von einer "Win-win-Kooperation" (ein Lieblingswort der chinesischen Führung) schwärmten, als habe es die vergangenen Jahre nicht gegeben.

Die gute Nachricht: Die Chinaschwärmer sind nur mehr eine Minderheit, wenn auch eine mächtige. Die meisten Akteure in Europas Politik, Gesellschaft und auch Wirtschaft sind spätestens seit dem russischen Überfall auf die Ukraine in ihrer Analyse schon viel weiter. Bezeichnenderweise war es ausgerechnet der Bund der Deutschen Industrie, der sich 2019 als Erster traue, China als "System-Rivale" zu identifizieren, die Politik zog nach. Die schlechte Nachricht aber ist: Die Kluft zwischen der Wahrnehmung des zunehmend totalitär regierten China als Bedrohung unserer wirtschaftlichen und nationalen Sicherheit auf der einen Seite und praktischem Tun auf der anderen ist noch riesig. Als gebe es eine "intellektuelle Sperre", schreibt Janka Oertel, "die Konsequenzen dieser Beobachtung auch zu Ende zu denken".

In Deutschland herrscht "Behäbigkeit des Nichthandelns"

Besonders wir Deutschen stecken durch unsere engen wirtschaftlichen Bande noch fest in einer "Schicksalsgemeinschaft" (Oertel) mit China und tun uns verdammt schwer, den Weg aus der potenziellen Erpressbarkeit zu finden. Janka Oertel identifiziert nun hartnäckig kursierende Mythen über China, die zur "Behäbigkeit des Nichthandelns" beitragen. Jene Illusion von der "Win-win-Kooperation" etwa. Oder diese: China ist ein rationaler Akteur. Die Kommunistische Partei Chinas ist pragmatisch und flexibel. China ist unser Partner beim Klimaschutz. China hat keine Tradition der militärischen Aggression und wird nie die kriegerische Eskalation suchen.

Oertel stellt alle diese Mythen auf den Prüfstand und nimmt sie nüchtern auseinander. Am Ende steht als Conclusio fast immer ein: Stimmt nicht. War mal.

Die Kommunistische Partei als "Risikofaktor"

Das Buch startet mit einem Paukenschlag: "Die Partei ist kein Stabilitätsanker, sondern ein Risikofaktor." Oertel erzählt vom Ideologen Xi Jinping, der bereitwillig Fortschritt und Wachstum in der Wirtschaft vernichtet, dann, wenn es der Kontrolle dient. Sie beschreibt eine KP, die selbst den Systemwettbewerb ausgerufen hat, die die Welt in ihrem Interesse neu formen möchte. Sie erzählt vom chinesischen Militär, das aufrüstet und zunehmend aggressiv den Status quo rund um Taiwan aushöhlt.

Janka Oertel: Ende der China-Illusion. Wie wir mit Pekings Machtanspruch umgehen müssen. Piper Verlag, München 2023. 304 Seiten, 24 Euro. E-Book: 23,99. (Foto: Piper)

Es ist dies das China einer paranoiden KP, die kein Interesse hat an multilateralen Prozessen, die auf wirtschaftliche Dominanz setzt, die selbst unabhängig sein, andere aber abhängig machen möchte, die alles durch die Brille der nationalen Sicherheit und des eigenen Machterhalts sieht. "Ein China, das fest an der Seite Russlands steht", schreibt Oertel, "ein China, das uns den Rang abläuft bei den Autoexporten und grünen Technologien, ein China, das bereit ist für eine militärische Eskalation, ein China, das einfach nicht so werden will, wie wir das gerne hätten."

Eine Ansage an Kanzleramt

Man darf es gerne als Ansage ans Kanzleramt lesen, wenn Janka Oertel aus der Dringlichkeit der Aufgabe folgert, wahrhaft besonnenes und realistisches Handeln heute müsse das "Gegenteil von Abwarten und Stillstand" sein, es verlange im Gegenteil z ügige und mutige Schritte. All jenen, die sich auch nach dem Ukrainekrieg noch für ihre "Realpolitik" selbst auf die Schulter klopfen, gibt sie mit: "Die Realpolitiker:innen von gestern sind die Träumer:innen von heute." Es ist dies kein Kompliment.

Das "Ende der China-Illusion" ist ein Gegengift gegen Selbstbetrug und Bequemlichkeit. Es sei empfohlen all jenen, die sich gerne mal das Hirn durchpusten und vom Schutt alter falscher Wahrheiten befreien lassen möchten. Und allen anderen erst recht.

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Von Kai Strittmatter

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