Stadtführungen:Reise in Münchens Vergangenheit

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Der Marienplatz, wie er um 1570 ausgesehen haben soll: mit Galgen, freilaufenden Tieren, Pferdefuhrwerken und Mist auf dem Boden. (Foto: Weis(s)er Stadtvogel)

Stadtführungen haben viele wegen des Coronavirus schon fast aus der Erinnerung gelöscht. Jetzt hat sich der "Weis(s)e Stadtvogel" erstmals 3-D-Führungen ausgedacht. Das neue Angebot soll auch das Geschäft nach der Zwangspause wiederbeleben.

Von Thomas Becker

Wer hätte gedacht, dass die Grenze zwischen Mittelalter und 19. Jahrhundert ziemlich genau zwischen Fischbrunnen und Mariensäule verläuft? Wer Richtung Alter Peter schaut, sieht zur Linken eine Tram und gegenüber vom Hugendubel die Weinhandlung D'Orville, zur Rechten steht mitten auf dem Getreidemarkt statt der Mariensäule noch der Galgen, Pferdeäpfel liegen am Boden, und zwei arme Kerle müssen gerade auf dem Schandesel reiten.

Der Marienplatz im Jahr 1870: Die Pferdeäpfel und Galgen sind aus dem Stadtbild verschwunden. (Foto: Weis(s)er Stadtvogel)

Gut, genau genommen sieht man all das nur bei der 3-D-Tour, die sich Heinz Taubmann und seine Mitstreiter vom "Weis(s)en Stadtvogel" ausgedacht haben. Dank moderner Technik lassen sie den VR-bebrillten Gast an mehreren Stellen in der Altstadt zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit reisen: auf den Marienplatz 1570 und 1870, am Platzl staunt er, wie anders das Hofbräuhaus 1895 aussah, den Max-Joseph-Platz des Jahres 1802 hätte er ohne die Staatsoper kaum erkannt, am Odeonsplatz ist er am 9. November 1933 dabei, als Hitler die Gedenkstätte für die Opfer des Hitler-Putsches einweiht (Stichwort: die als "Drückebergergasse" bekannt gewordene Viscardigasse), bevor es am Rindermarkt dann richtig herb wird: Bombenangriff 1944, der Alte Peter ragt aus den Trümmern, oben am Himmel die Fliegerstaffeln, direkt über uns rast eine Bombe auf den Besucher zu... Gut, dass man die Brille einfach wieder abnehmen kann.

Eine Stadtführung: Auch so etwas, das man wegen des Coronavirus schon fast aus der Erinnerung gelöscht hatte. "Viele haben einfach vergessen, dass es Stadtführungen gibt", sagt Heinz Taubmann, der Geschäftsführer des "Weis(s)en Vogel", "dabei machen Erlebnistouren Spaß". Er selbst gibt seit vielen Jahren den Nachtwächter, eine der beliebtesten Touren, und um allen zu zeigen, dass er die Pest überlebt hat und wieder täglich seine Runden dreht, kommt er nun mit zwei Dutzend wunderhübsch kostümierten Kollegen am helllichten Samstag auf den Marienplatz. Die Botschaft ans versammelte Glockenspiel-Publikum und allen anderen Passanten: Wir sind wieder da! Bucht uns doch mal!

Rund 50 verschiedene Touren sind im Angebot, zu Fuß, mit dem Rad oder dem Bus: "Henker, Huren, Hexen", "Geheimnisvolle Altstadt - München im Mittelalter", "Rätselhafte Zeichen", "Starke Frauen", "Sagen & Legenden der Altstadt", Tatortgeschichten oder die beliebten kulinarischen Stadtführungen: Neben der Viktualienmarkt-Probiertour gibt es auch Leckereien in Haidhausen, Schwabing, im Westend, im Glockenbachviertel und neuerdings auch im boomenden Schlachthofviertel.

Und wie sah es hier früher aus? Einer der historisch gekleideten Stadtführer mit einer Virtual-Reality-Brille im Innenhof des Rathauses. (Foto: Leonhard Simon)

All das scheinen die Münchner - laut Taubmann sind die meisten Gäste Einheimische - vergessen zu haben. "Trotz des tollen Wetters in den vergangenen Wochen ist das Telefon ziemlich still geblieben", klagt der Stadtvogel-Chef. "Momentan haben wir vielleicht 20 Prozent der Buchungen wie vor Corona." Die diversen Lockdowns haben ihm und seinen Kollegen rund ein Jahr Berufsverbot beschert. Von den zuvor etwa hundert Stadtführern und 20 Schauspielern sei nur noch etwa die Hälfte übrig.

Gerade die Schauspielbranche hat die Pandemie kräftig gebeutelt, erzählt Jacqueline Schiesser, die sich als höfische Zofe in ein prachtvolles Kleid geworfen hat. Sonst ist sie mit einer Ikea-Tüte voller Klamotten unterwegs und platzt zuweilen mitten in eine Führung rein, um eine Szene zu spielen: Teufelstritt in der Frauenkirche, Renata von Lothringen in der Michaelskirche, Vera Brühne oder die Rosi aus dem Sperrbezirk. "Nebenher habe ich mich aber aufs Romaneschreiben verlegt", erzählt sie. Ihr neuestes Werk heißt "A Tale of Gods and Monsters: A Viking Story" sei nichts für schwache Nerven und spiele im Jahr 909.

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Am Jakobsplatz ist auch ein Ausflug in die Zukunft möglich

Geschichtsinteressiert sind sie alle, wie sie da vorm Rathaus stehen. Ein paar Novizen sind auch dabei: Katharina Frenck und Ben Neudeck sind gerade mittendrin in der viermonatigen Ausbildung zum Stadtführer und "dankbar, dass wir nicht in Augsburg sind", meint Neudeck: "Das wäre nochmal 800 Jahre mehr Stoff zu lernen - gut: Wolfsburg wäre kürzer gewesen." Zwei Klausuren und drei Probeführungen müssen absolviert werden, erklärt der als Augustiner Biermönch Kostümierte. Eigentlich ist er Erzieher, "aber ich laufe schon viel durch München, bin schon so ein Stadtstreuner".

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Die Mönchskutte steht ihm prima, aber gegen Heinz Taubmanns ziemlich perfektes Nachtwächter-Outfit kommt kaum einer an: mächtige Hellebarde, schwarzgelbes Wams, Hut samt Feder, kniehohe Schaftstiefel, Trinkhorn am Gürtel und natürlich die Laterne für die Nacht. Wo er all das her hat? "Die Mama schneidert", sagt er, und das tut sie sehr gut und passgenau, "und dann gibt's da noch den Kostümverkauf der Staatsoper. Da schauen wir immer, dass wir alle schön früh da sind, um uns eindecken können."

Das hat beim letzten Mal offenbar gut geklappt. So abwechslungsreich und fesch herausgeputzt wie die bunte Stadtvogel-Truppe da vor dem Rathaus steht, bleibt einem nur die Qual der Wahl. Und wer sich an den zunächst etwas schwindelig machenden Effekt der 3-D-Brille gewöhnt hat, wähnt sich bald mitten im historischen Geschehen. Der Blick geht jedoch nicht nur zurück, sondern auch nach vorn: Wer hätte gedacht, dass der Jakobsplatz des Jahres 2100 mal so futuristisch aussehen würde?

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