Kundgebung von Menschen mit Behinderung:Ex-OB Ude warnt vor "Rückfall in die Barbarei"

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"Die Rechtsextremisten werden von Woche zu Woche schamloser": Münchens früherer Oberbürgermeister Christian Ude unterstützt die Anliegen der Protestierenden beim "Randgruppenkrawall". (Foto: Martin Bernstein)

Beim "Randgruppenkrawall" in München gibt es vor allem ein Thema: die Attacke des Thüringer AfD-Chefs Höcke auf die schulische Inklusion. Doch auch Behindertenfeindlichkeit im Alltag wird kritisiert.

Von Martin Bernstein

"Das sind Leute, die mit Euthanasie mehr am Hut haben als mit Inklusion." Münchens ehemaliger Oberbürgermeister Christian Ude hat am Samstagnachmittag auf dem Münchner Marienplatz für die AfD und deren inoffiziellen Anführer Björn Höcke sehr deutliche Worte gefunden. Wenn die Inklusion behinderter Menschen in den Schulen als angebliches "Ideologieprojekt" abgeschafft werden solle, bereite das einen "Rückfall in die Barbarei" vor. Ude wörtlich: "Die Rechtsextremisten werden von Woche zu Woche schamloser."

Höckes verbaler Angriff auf die Menschenwürde behinderter Menschen war das Hauptthema beim sechsten "Randgruppenkrawall" in München - einer Kundgebung, die von Schwerbehinderten und psychisch Kranken, ihren Freunden, pflegenden Angehörigen sowie ehrenamtlich und beruflich unterstützenden Menschen veranstaltet wird. Organisatorin ist Patricia Koller vom Behindertenverband Bayern.

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Sie erinnerte vor rund hundert Zuhörerinnen und Zuhörern an die "tief verwurzelte Behindertenfeindlichkeit" in der deutschen Geschichte, gipfelnd im Massenmord der Nationalsozialisten an mehr als 200 000 kranken und behinderten Menschen. Koller warnte davor, "was für enorme Gefahr für uns entsteht, wenn erneut Faschisten an die Macht kommen (...) und uns entrechten wollen".

Patricia Koller vom Behindertenverband hat die Kundgebung organisiert. (Foto: Leonhard Simon)

Noch vor ein paar Jahren hätte wohl niemand gedacht, "dass sich Deutschland nochmals in eine so widerliche und brandgefährliche Richtung entwickelt". Früher habe man sich fassungslos gefragt, wie das gigantische Verbrechen der NS-Zeit möglich gewesen sei und warum so viele mitgemacht hätten. "Heute können wir quasi live mit ansehen, wie sich das Nazi-System durch unablässige Hetze neu installiert und ganze Bevölkerungsgruppen ausgrenzt."

Koller kritisiert, viele behinderte Menschen seien von Geburt an kleingehalten worden

Der Psychiater Michael von Cranach, der sich seit Jahrzehnten um die Aufarbeitung der NS-Krankenmorde bemüht, schlug ebenfalls den Bogen zu den jüngsten Äußerungen des Thüringer AfD-Politikers. Höckes "Hintergedanke" sei es, so Cranach, dass Menschen unterschiedlichen Wert hätten. Das aber widerspreche der Menschenrechts- wie der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Deren Gehalt fasste Cranach so zusammen: "Gebt das Defizit-Modell auf und versucht zu verstehen, dass Behinderung Ausdruck der Vielfalt des Menschen ist."

Die UN-Behindertenrechtskonvention ist nach ihrer Annahme durch die Bundesrepublik geltendes Recht. "Deutschland setzt sie nur kaum um", kritisierte Patricia Koller. Auch deswegen sei es wichtig, "laut und sichtbar" aufzubegehren. Koller nannte zahlreiche Beispiele von Diskriminierung, Ausgrenzung, Bevormundung und Unterdrückung. Behinderte Menschen könnten an Veranstaltungen nicht teilnehmen, hätten keinen Zugang zu vielen Restaurants oder Arztpraxen, könnten Verkehrsmittel nicht selbstbestimmt nutzen, fänden keine Behindertentoiletten.

Viele Menschen mit Behinderung hätten Angst, aufzubegehren, weil sie von Geburt an kleingehalten worden seien und man ihnen immer wieder weisgemacht habe, dass sie minderwertig seien. "Das ist ungeheuerlich", so Koller. Sie forderte ein "funktionierendes Beschwerdesystem, damit Menschen mit Behinderungen und chronischen oder psychischen Erkrankungen" sich gegen Unrecht zur Wehr setzen könnten.

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