Wenn Mohammed Halloum von seiner Ausbildung erzählt, landet er immer wieder vorne bei der Kasse. Dort, wo das Herz eines jeden Supermarkts schlägt. Hier ratscht er mit den Stammkunden, manchmal, wenn es denn so ist, tröstet er sie. Hier beobachtet er, wie seine Pappenheimer um 19.58 Uhr reinhetzen und schnell noch was fürs Abendessen holen.
"Ich mag es, mit den Menschen zu sprechen", sagt der 17-Jährige mit den kurzen schwarzen Haaren und dem Adidas-Pulli. Seit September macht er bei einer großen Kette in Landshut die Ausbildung zum Verkäufer. An diesem Vormittag Ende April aber ist er zu Besuch in seiner alten Förderschule im Osten der Stadt. Er hat da noch ein paar Fragen an Frau Huber. Sandra Huber ist Sozialpädagogin und seine Mentorin für den Berufseinstieg.
Seit dreieinhalb Jahren kennen sich die beiden. Sie hat ihm Praktika als Koch und Fachlagerist vermittelt. Ihm gezeigt, wie man einen Lebenslauf schreibt und ihm Mut gemacht, als es auf den Mittelschulabschluss zuging. Er lernte, dass man bei Bewerbungsgesprächen Wissen über das Unternehmen mitbringen und im Anschluss seine Anrufe und E-Mails im Blick haben sollte. Huber ist Berufseinstiegsbetreuerin. Noch, denn es ist unklar, wie lange es diese Rolle noch geben wird. Nachdem der EU-Topf, aus dem das Geld kam, gekürzt worden war, stand das Konzept immer wieder auf dem politischen Abstellgleis. Mit einem Federstrich lässt sich so ein zweistelliger Millionenbetrag einsparen. Zuletzt aber entrüsteten sich Opposition und Wirtschaftsvertreter so hörbar, dass das Kultusministerium doch noch kurzfristig Geld für die nächste Finanzierungsrunde der Einstiegsbetreuer fand. 3500 Menschen wie Mohammed Halloum sollen von 2023 an wieder für mehrere Jahre begleitet werden. Was danach folgt, ist offen.
"Alles kann sich verändern, wenn du es willst!"
Warum sollten benachteiligte Jugendliche an Mittel- und Förderschulen ein Recht auf Eins-zu-eins-Betreuung haben? Braucht es das überhaupt? Zurück im kompakten Büro von Sandra Huber und ihrer Kollegin im Förderzentrum Landshut-Stadt. Worum es ihnen hier geht? An der Wand hängen 20 dichtbedruckte Seiten mit Adressen örtlicher Ausbildungsbetriebe. Auf einer weißen Tafel steht eine Mindmap mit Handwerksberufen, vom Bäckereiverkäufer zum Metallbauer. In der Ecke steht ein Plakat des Trägers, des Jugendsozialwerks Landshut, mit posierenden Jugendlichen und dem Titel "Alles kann sich verändern, wenn du es willst!"
Kann es das wirklich? Studien zeigen, dass sich brüchige Lebensläufe oft reproduzieren, Kinder benachteiligter Eltern sich oft schwertun auf dem Arbeitsmarkt. Darunter leidet nicht zuletzt die bayerische Wirtschaft. Jede sechste ausgeschriebene Ausbildungsstelle blieb im Herbst unbesetzt, der Nachwuchsmangel verschärft sich. Gleichzeitig suchen Tausende Bewerber nach der passenden Stelle - zumindest auf dem Papier.
Auch Mohammed Halloum war mal ein Suchender. Seine Eltern kommen aus dem Libanon, arbeiten viel, beide sind Gebäudereiniger. Helfen konnten sie ihm nicht. Zwar durchlief auch er Maßnahmen wie "Talente fördern", wo Schüler in drei Modulen je eine Woche an ihre Berufswahl herangeleitet werden sollen. Halloum sagt: "Ich hatte keine Ahnung, was ich machen soll." Kritiker monieren ebenfalls, dies sei nur punktuell und längst nicht so nachhaltig wie das Berufseinstiegsprogramm "Bereb".
Ein halbes Jahr lang machte Mohammed Halloum eine sogenannte Berufseinstiegsqualifikation über die Arbeitsagentur. Ein Jahr Spätschicht im Supermarkt, 11 bis 20 Uhr. Regale einräumen, neue Ware nach hinten, die ältere nach vorne, und alles schön gerade. Danach war man dort überzeugt, dass es der Junge packt. Montags und dienstags fährt er jetzt immer nach München zur Berufsschule. Mathenachhilfe, Kostenrechnung, Bilanzierungen. An den anderen Tagen ist er im Supermarkt.
Als die politische Debatte über die Zukunft von "Bereb" begann, erstellte das Kultusministerium eine Liste mit den bestehenden Hilfen. Berufsorientierung, Jugendsozialarbeit, Praxis an Mittelschulen, Ausbildungsmessen und, und, und. In Landshut überzeugt das weniger. "Ohne unsere Begleitung würden Jugendliche überhaupt nicht zur Messe gehen", sagt Huber. Die Schulleiterin Gabriele Lohmüller spricht mit Blick auf Bereb von einer "hocheffektiven" Maßnahme: "Keine andere schafft es, Jugendliche in dieser Qualität zu begleiten."
Newsletter abonnieren:Mei Bayern-Newsletter
Alles Wichtige zur Landespolitik und Geschichten aus dem Freistaat - direkt in Ihrem Postfach. Kostenlos anmelden.
In Landshut haben sie eine ganz eigene Erfolgsbilanz
Tatsächlich ist die Kosten-Nutzen-Bewertung von Bereb nicht ganz einfach, zumal es eine präventive Maßnahme ist. Bei der letzten systematischen Auswertung monierten Forscher die große Fluktuation unter den Betreuern. Das Programm überführe längst nicht alle nahtlos in eine Ausbildung. Langfristig helfe es aber, insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund. Die Evaluation ist nicht ganz neu, aus dem Jahr 2015: ein Nachteil, als es in den politischen Runden zuletzt um die Frage der Weiterführung ging. Die Verhandlungen zwischen CSU und Freien Wählern, Sozial- und Kultusministerium führten zunächst zur Aufgabe des Programms. Es kam zum Protest, schließlich kratzten die Freien Wähler doch noch die nötigen Millionen zusammen. Das Geld kam aus einem Corona-Notfallfonds des Kultusministeriums.
Dahinter steckt nicht zuletzt eine betriebswirtschaftliche Rechnung. "Wenn 3500 junge Menschen scheitern, wird es am Ende noch deutlich teurer", sagt Tobias Gotthardt, der den Bildungsausschuss im Landtag leitet. Etwa 18 Millionen Euro investiert der Freistaat nun abermals, dieselbe Summe kommt vom Bund. Pro Kopf sind das insgesamt 10 000 Euro - 300 Euro im Monat in drei Jahren. Was sei das schon, wenn ein Jugendlicher dafür in die Gesellschaft eingegliedert werde, fragt Lohmüller rhetorisch. In Landshut haben sie dazu ihre ganz eigene Erfolgsbilanz. Mehr als zwei Drittel der Teilnehmer hat hier eine Ausbildung begonnen, 14 Prozentpunkte mehr als der durchschnittliche Mittelschüler in Bayern (57 Prozent).
"Jeder will in das Programm", sagt Mohammed Halloum. Er hat jetzt alles ausgereizt. Bis Juli kann er sich noch Ratschläge von Frau Huber holen, dann muss er ohne sie klarkommen. Dabei hat er noch Glück: Unter den jetzigen Förderbedingungen wäre für ihn längst Schluss gewesen. Will man lieber 3500 Personen über 36 Monate fördern oder wenige über 48? Einer der Nutznießer ist nun sein jüngerer Cousin. Er wolle ebenfalls in den Supermarkt, sagt Halloum. "Er könnte keine Bewerbung alleine schreiben." Und dennoch könnte er einer der letzten werden, wenn sich keine langfristige Lösung findet. Bereb bedroht? Mohammed Halloum kann da nur den Kopf schütteln. Jemanden wie Frau Huber, sagt er, brauche eigentlich jeder.