Nationalsozialismus:Die verdrängten Morde

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Seit Anfang 2020 gibt es in der Altstadt im oberbayerischen Wasserburg ein Denkmal für die Ermordeten aus dem nahen Bezirkskrankenhaus und aus der Stiftung Attl. (Foto: Matthias Köpf)

Der Bezirk Oberbayern gibt ein umfassendes Buch zum Umgang mit den "Euthanasie"-Morden der Nazis heraus. Das Werk zeigt, dass es nicht ganz einfach ist, neben den Toten auch das Verbrechen beim Namen zu nennen.

Von Matthias Köpf

All die Opfer, die in seinen Einrichtungen während des Nationalsozialismus ermordet worden sind, endlich bei ihren Namen zu nennen, das hat sich der Bezirk Oberbayern vor einigen Jahren zur Aufgabe gemacht. 2018 hat er mit dem NS-Dokumentationszentrum ein "Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen ,Euthanasie'-Morde" herausgegeben. Ein weiteres Buch für die Toten auch aus dem übrigen Oberbayern soll in drei oder vier Jahren folgen, verzögert durch den Tod des Münchner Medizinhistorikers Gerrit Hohendorf, der auch an diesem zweiten Buch maßgeblich beteiligt sein sollte. In der Zwischenzeit hat der Bezirk nun ein Werk herausgegeben, das weit über Oberbayern hinausreicht und das den Umgang mit diesen Verbrechen der NS-Zeit selbst ganz grundsätzlich zum Thema macht. Schon der Titel - "Verdrängt" - zielt darauf, wie viel da auch heute noch zu tun ist und morgen noch zu tun sein wird.

Dass es nicht ganz einfach ist, neben den Toten auch das Verbrechen beim Namen zu nennen, zeigt sich schon im Untertitel und dann auch in dem gesamten, 256 Seiten starken Buch. Konsequent steht das Wort "Euthanasie" in Anführungszeichen. Das aus dem Altgriechischen geholte Wort vom "guten Tod" ist Tätersprache. Es ist das Wort, das die Nationalsozialisten selbst für ihre Morde an Kranken und Behinderten gewählt haben. Doch "Krankenmorde", wie es noch im Arbeitstitel des Buches geheißen hatte, wäre aus Sicht von Jörg Skriebeleit wohl nicht besser gewesen. Denn bei Weitem nicht alle Ermordeten würde man nach heutiger Ansicht als krank bezeichnen, sagt Skriebeleit, der die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg in der Oberpfalz leitet und seit 2020 auch das neu eingerichtete Zentrum Erinnerungskultur der Universität Regensburg. Das von Skriebeleit zusammen mit Winfried Helm verantwortete Buch ist zugleich die erste eigenständige Publikation dieses Zentrums.

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Auch dieses Buch nennt Namen. Die von Helmut Silberberg, Josefa Rott, Anton Widhammer, Josef Schneller, Katharina Schwaiger und Wilhelm von Bibra zum Beispiel. Sie alle waren Patienten der damaligen oberbayerischen Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar bei München, und sie alle sind ermordet worden von den Nazis, die ihr Leben als unwert abstempelten und durch die Morde "erbkranken Nachwuchs" verhindern wollten, wie es das entsprechende Gesetz vom 14. Juli 1933 vorsah. Diesen sechs beispielhaften Toten sind jeweils zwei Seiten Text gewidmet und davor eine Reproduktion des Deckblatts ihrer Krankenakte.

Diese Akten gibt es noch. Der Bezirk Oberbayern als heutiger Träger des Isar-Amper-Klinikums in Haar hat sie und viele andere aufbewahrt in seinem Archiv, das Bezirkstagspräsident Josef Mederer (CSU) "unseren Schatz" nennt. Denn im Gegensatz zu manch anderer Körperschaft hat er die Akten über die Jahrzehnte archiviert und inzwischen sehr gut erschlossen, statt sie zu beseitigen und damit möglichst auch gleich die Erinnerung an das Geschehene auszulöschen. So blieb immerhin die Möglichkeit des Erinnerns bewahrt an ganz konkrete Fälle, in denen schutzbedürftige Menschen zwangssterilisiert wurden, in denen man sie planvoll verhungern ließ oder sie in Gasmordanstalten gebracht hat wie die im oberösterreichischen Hartheim, im hessischen Hadamar, in Grafeneck in Baden-Württemberg, in Bernburg in Sachsen-Anhalt, in Brandenburg an der Havel oder im sächsischen Pirna-Sonnenstein.

Historiker Jörg Skriebeleit (links) und Oberbayerns Bezirkstagspräsident Josef Mederer (CSU) bei der Präsentation des Buchs. (Foto: Matthias Köpf)

All diese Orte sind in dem Buch verzeichnet auf einer Karte des "Großdeutschen Reichs" im Jahr 1942 und seiner angeschlossenen Gebiete im Osten, und dazu Dutzende weitere, in denen die Menschen nicht planmäßig vergast, aber auf andere Weise ermordet wurden - beschlossen, befohlen, angeleitet und mindestens geduldet nicht nur von Nazi-Kadern und treuen Bürokraten der NS-Diktatur, sondern auch von Ärzten, Schwestern und Pflegern in all den Heimen, Krankenhäusern und Anstalten selbst. Auf bayerischem Boden hat es zum Beispiel keine Gasmordanstalt gegeben, und doch schätzt Jörg Skriebeleit die Zahl der Opfer in Bayern auf 25 000 bis 30 000 und einschließlich der Zwangssterilisierten noch einmal auf sehr viele mehr.

Was damals geschehen ist, wie seither damit umgegangen wurde, wie heute damit umgegangen wird und wie in Zukunft damit umgegangen werden könnte - das sind die Themen des aufwendig und vielfältig gestalteten Buches, an dem mehr als 20 Autorinnen und Autoren mitgeschrieben haben.

Verdrängt. Die Erinnerung an die nationalsozialistischen "Euthanasie"-Morde. Hg. vom Bezirk Oberbayern durch das Zentrum Erinnerungskultur der Universität Regensburg (Jörg Skriebeleit und Winfried Helm), 256 Seiten, 200 Abbildungen, ISBN 978-3-8353-5374-9, 24,90 Euro.

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