Evonik:Abschied von Kautschuk, Windeln und Russland

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Evonik-Chef Christian Kullmann beim kleinen Parteitag der Grünen vor zwei Wochen. (Foto: David Young/dpa)

Evonik will drei Geschäftsbereiche abstoßen, die nur schwankende Erträge bringen, und sich stärker zu spezialisieren. Außerdem sollen Milliarden in die Klimabilanz fließen.

Von Benedikt Müller-Arnold, Essen

Raus aus Massenmärkten, rein in klimaschonendere Produkte: Evonik, einer der größten Chemiekonzerne Deutschlands, steht vor einem Umbau. Die Essener wollen gleich drei Geschäftsteile verkaufen, die sie nicht als Wachstumsfeld sehen. Auf der anderen Seite kündigen sie an, bis zum Jahr 2030 acht Milliarden Euro in Zukunftsfelder zu investieren. "Die Hälfte davon in Deutschland", sagt Vorstandschef Christian Kullmann. Er will die neue Strategie an diesem Mittwoch Investoren und Analysten vorstellen. Sie bedeutet freilich auch, dass Evonik im Heimatmarkt Deutschland kleiner wird.

Zu jenen Teilen, die Evonik verkaufen will, zählt der sogenannte C4-Verbund mit etwa 1000 Beschäftigten in Marl im Ruhrgebiet sowie im belgischen Antwerpen. Diese Anlagen stellen Zwischenprodukte her, die beispielsweise als Kautschuk in Autoreifen landen oder als Zusatzstoff in Benzin. Es sind international vergleichsweise austauschbare Chemikalien. "Wir haben hier vorrangig ein Gemeinschaftsunternehmen im Blick", sagt Kullmann, "werden aber auch über einen möglichen Direktverkauf reden".

Zudem hat Evonik angekündigt, einen Produktionsstandort in Lülsdorf nahe Köln zu verkaufen. Die etwa 600 Beschäftigten dort stellen unter anderem Alkoholate her, die in Biodiesel zum Einsatz kommen. "Es gibt eine ganze Reihe an Interessenten", sagt Kullmann. Und schließlich hat Evonik das Geschäft mit saugstarken Absorbern, die beispielsweise in Windeln stecken, eigenständig aufgestellt; die Sparte mit etwa 900 Beschäftigten könnte nächstes Jahr zum Verkauf stehen.

"Wir wollen Geschäfte, die weniger stark schwanken", erklärt Kullmann, "und in denen wir in einer weltweit führenden Position sind". Vergleichbare Strategien verfolgt etwa auch Lanxess, ebenfalls einer der größten Chemiekonzerne Deutschlands: Die Kölner haben unter anderem ihr schwankungsanfälliges Kautschuk-Geschäft abgegeben; sie setzen stattdessen beispielsweise auf Zusatzstoffe, die in bestimmten Anwendungen gebraucht würden wie "das Salz in der Suppe". So beschrieb es Lanxess-Chef Matthias Zachert kürzlich.

Diese Spezialisierung zahle sich gerade in Zeiten teurer Energie und Rohstoffe aus, argumentieren die Manager. So habe Lanxess die Preise in den vergangenen Monaten deutlich angehoben. Das wäre früher nicht möglich gewesen, sagte Zachert.

Mit einem Gas-Embargo drohen Deutschland "zigtausend neue Arbeitslose", warnt Kullmann

Evonik wiederum will jene acht Milliarden Euro Investitionsmittel vor allem für zwei Zwecke ausgeben: zur einen Hälfte bestehende Anlagen in Schuss halten und deren Klimabilanz verbessern, zur anderen Hälfte neue Chemikalien auf den Markt bringen, die nachhaltiger sein sollen als gängige Produkte und obendrein profitabler. "Evonik wird grün", meint Vorstandschef Kullmann. Als Beispiel nennt Evonik wasserlösliche Lacke, dank derer weniger Lösemittel in die Umwelt gelangen als mit herkömmlichen Lacken. Oder sogenannte Tenside in Spülmitteln, die das Unternehmen künftig nicht mehr aus Erdöl, sondern aus Mais-Abfällen herstellen will.

Eine große Unwägbarkeit dieser Tage hat Kullmann freilich nicht eingepreist in seiner Investitionszusage: einen denkbaren Stopp von Gaslieferungen aus Russland beziehungsweise einen Boykott seitens der EU angesichts des Kriegs in der Ukraine. "Ein Gas-Embargo würde diese Volkswirtschaft erheblich treffen", konstatiert Kullmann, der derzeit Präsident des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) ist. "Wir müssten uns auf zigtausend neue Arbeitslose einstellen."

Tatsächlich ist die Chemiebranche einer der größten Gas-Abnehmer Deutschlands. Doch sollte Gas im kommenden Winter knapp werden, müssten Versorger nach bisheriger Rechtslage Privatleute, soziale Einrichtungen und Fernwärme-Kraftwerke zuerst beliefern. Der Industrie hingegen drohen Drosselungen, je nach Witterung, möglichen Einsparungen und Lieferungen aus anderen Staaten. Kullmann fürchtet in dem Fall beträchtliche Folgeeffekte: "Produkte der chemisch-pharmazeutischen Industrie stecken in gut 90 Prozent aller Wertschöpfungsketten in Deutschland drin."

Der Manager sieht gleichwohl eine Chance, dass Deutschland bis Mitte 2024 weitestgehend unabhängig von russischem Gas werden könne. "Damit das funktioniert, müssen aber zum Beispiel Genehmigungsverfahren für Windräder beschleunigt werden", fordert Kullmann.

Das eigene, vergleichsweise kleine Geschäft in Russland will Evonik derweil herunterfahren und Lagerbestände verkaufen. Denn die bisherigen Sanktionspakete der EU zeigen Wirkung: "Lieferungen nach Russland sind aufgrund der Sanktionen nicht mehr möglich", sagt Kullmann.

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