Wieder schaut die Welt auf diesen Ort im deutschen Osten. Lubmin bei Greifswald, Mecklenburg-Vorpommern. Seebrücke, Strände und 2000 Einwohner. Eine Idylle, allerdings kommt hinten im Industriegebiet neben den Ruinen eines Atomkraftwerks das Erdgas aus Russland an. Oder eben nicht. Die Pipeline Nord Stream 2 wurde wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine nie geöffnet. Jetzt werden die Ventile bei Nord Stream 1 geschlossen. Noch weiß niemand, für wie lange.
Eine Wartung der Pipeline ist von diesem Montag an geplant, zehn Tage fließt nun kein Gas mehr. Eigentlich ist das Routine. Jeden Sommer wird so der Gasfluss gestoppt, werden Roboter durch die 1,20 Meter großen, gut 1200 Kilometer langen Rohre geschickt. Sie reinigen die Anlage, suchen nach Rissen und Korrosionsschäden. Doch die Zweifel wachsen, ob Russland den Gashahn danach wieder aufdreht. Aus der technischen könnte eine politische Wartung werden. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) spricht aus, was längst viele in der Regierung fürchten: Ab dem 11. Juli drohe "eine Blockade von Nord Stream 1 insgesamt".
In Berlin bereitet man sich deshalb auf den Ernstfall vor: Leere in der Doppelröhre weit über den 21. Juli hinaus. Und ein Land auf Sparflamme. Denn Russland hat seine Lieferungen schon vor einigen Wochen reduziert, seit Mitte Juni fließen nur noch 40 Prozent der üblichen Gasmenge durch die Pipeline. Angeblich, weil kanadische Sanktionen die Rückkehr einer Siemens-Turbine behindern, die dort gewartet wird. Der Aufsichtsrat bei Siemens Energy, Joe Kaeser, hält das für einen Vorwand. Um dem Kreml diesen Vorwand zu nehmen, hat die Bundesregierung Kanada gebeten, die Turbine nach Deutschland zurückzuschicken. Am Samstagabend entsprach die Regierung in Ottawa dieser Bitte und erklärte, man werde eine Ausnahme von den Russland-Sanktionen machen.
Ganzen Industriebranchen könnte der Notbetrieb bevorstehen
Lässt Russland die Pipeline wirklich auf lange Sicht ungenutzt, droht Deutschland ein harter Winter. Strömt nicht bald wieder das volle Pensum durch Nord Stream 1, wird es nicht gelingen, die deutschen Gasspeicher für den Winter ausreichend zu füllen. Nötig wäre ein Stand von 90 Prozent, bislang sind es nur knapp 63 Prozent. Die Versorgungssicherheit sei derzeit gewährleistet, aber die Lage sei ernst, sagt eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums.
Je nach Szenario könnte es laut Bundesnetzagentur von Dezember bis Mai zu Gasengpässen kommen. Reduziert Deutschland seine Exporte ins Ausland, wären noch die Monate Januar bis April kritisch. Ganzen Industriebranchen könnte der Notbetrieb bevorstehen. Schon jetzt lässt die Angst vor einem Lieferstopp die Preise rasant steigen. Mancher Verbraucher muss bereits das Doppelte zahlen.
Alle Nachrichten im Überblick:SZ am Morgen & Abend Newsletter
Alle Meldungen zur aktuellen Situation in der Ukraine und weltweit - im SZ am Morgen und SZ am Abend. Unser Nachrichten-Newsletter bringt Sie zweimal täglich auf den neuesten Stand. Hier kostenlos anmelden.
Das erste Unternehmen strauchelt bereits. Der Importeur Uniper beantragte am Freitagnachmittag Staatshilfe. Es geht um Kredite und möglicherweise auch um einen milliardenschweren Einstieg des Staates. Uniper leidet als größter ausländischer Gazprom-Kunde wie kein zweiter unter ausbleibenden russischen Lieferungen. Die Ausfälle muss Uniper mit Zukäufen zu sehr hohen Kosten ausgleichen.
Die Zeit bei der Rettung drängt offenbar. Erst am Freitagvormittag hatte der Bundesrat ein Gesetz verabschiedet, mit dem die Regierung derart angeschlagene Unternehmen bis zum Staatseinstieg stützen kann. Eingemottete Kohlekraftwerke können zudem künftig wieder angefahren werden, um dafür Gas-Kraftwerke vom Netz zu nehmen.
Das Parlament bleibt in Alarmstimmung
Auch der Bundestag bleibt in Alarmstimmung. Zwar begann am Freitag die parlamentarische Sommerpause. Fraktionen stellten ihre Mitglieder aber darauf ein, dass eine Gas-Sondersitzung nötig wird. "Deswegen rate ich meinen Fraktionskolleginnen und -kollegen allen, dass sie gut erreichbar sind", sagte die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD, Katja Mast.
Lubmins Bürgermeister und Industriehafenchef Axel Vogt geht davon aus, dass nach der Wartung wieder geliefert wird. Die Anlage sei ja noch nicht alt, sagt er, und der Reparaturbedarf hält sich seines Wissens in Grenzen. Er hat regelmäßig Kontakt mit dem russischen Techniker von Nord Stream 1 am Lubminer Hafenkanal. In der Gemeinde wird trotzdem schon an Alternativen gearbeitet; es geht um Windkraft, Wasserstoff und ein geplantes LNG-Terminal.
Ständig klingelt Vogts Handy, ein Ortsvorsteher in der Weltpolitik. Für diesen Montag haben sich erneut Kamerateams in seinem Seebad angekündigt, obwohl sich die Anlandestation von Nord Stream 1 nur aus Distanz filmen lässt, weil sie in einem Sperrgebiet neben der Bundespolizei liegt. Die Sicherheitskräfte wollen verhindern, dass Drohnen aufsteigen. Vogt hofft, dass das Gas aus Russland bald wieder fließt, aber sicher ist er sich nicht: "Das ist ein Blick in die Glaskugel."