Folgen des russischen Überfalls:EU-Gipfel streitet über Mitgliedsantrag der Ukraine

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Glänzende Kulisse, triste Themen: Die Teilnehmer des EU-Gipfels auf Schloss Versailles. (Foto: Ludovic Marin/AFP)

Osteuropäische Regierungen fordern ein klares positives Signal für Kiew, doch andere - auch Berlin - bremsen. Daneben sind die Spitzenpolitiker uneins, wie die hohen Energiepreise zu senken sind.

Von Björn Finke und Matthias Kolb, Versailles

Idealerweise sind alle strittigen Formulierungen vorab geklärt, bevor die Staats- und Regierungschefs zu den EU-Gipfeln eintreffen. Dies gilt besonders für die informellen Treffen, die in jedem Halbjahr von der rotierenden EU-Ratspräsidentschaft organisiert werden, damit die Spitzenpolitiker grundsätzlicher diskutieren können. Dass es in der Realität nur selten ideal zugeht, führt den Europäern gerade der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine vor Augen. Denn genau in dieser Angelegenheit ist der Streit noch nicht ausgeräumt, als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seine Gäste im Schloss von Versailles empfängt.

Tagelang hatten die EU-Botschafter über die "Erklärung von Versailles" verhandelt, doch zu Absatz 4 gibt es noch keine Einigung. Hier geht es um die Reaktion der EU-27 auf den Antrag für eine EU-Mitgliedschaft, den der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij gestellt hat. Im jüngsten Textentwurf heißt es nur, dass die Mitgliedstaaten die EU-Kommission um "eine Meinung" zum Antrag aus Kiew gebeten hätten und dass man die Partnerschaft vertiefen wolle. Dass vor dem Treffen der Satz "Die Ukraine gehört zu unserer europäischen Familie" eingefügt wurde, genügt vielen Ost- und Mitteleuropäern nicht.

So fordert Estlands Premierministerin Kaja Kallas im Interview mit der SZ, der Ukraine sofort eine klare Perspektive für einen EU-Beitritt zu geben. "In meinen Augen ist es sogar unsere moralische Pflicht, diesen Menschen ihren europäischen Traum möglich zu machen. Die Ukrainer kämpfen nicht nur für die Ukraine, sondern im wahrsten Sinne des Wortes für Europa", sagt Kallas und fragt: "Wann, wenn nicht jetzt?" Diese Position dürfte sie ebenso wie die Vertreter aus Lettland, Litauen, Polen und Slowenien beim Abendessen am Donnerstag in der Galerie des Glaces, dem Spiegelsaal, vertreten haben.

"Unsere moralische Pflicht": Estlands Premierministerin Kaja Kallas will, dass die EU der Ukraine sofort eine Beitrittsperspektive gibt, sagte sie im SZ-Interview. (Foto: Christoph Hardt/IMAGO/Future Image)

Frankreich, der Gastgeber des zweitägigen Gipfels, gehört mit Dänemark, den Niederlanden und Deutschland zu den Bremsern. Das Thema sei "nicht für morgen", sagte Europaminister Clément Beaune am Donnerstagmorgen. Und Macron äußert sich nur vage zum Wunsch eines schnellen EU-Beitrittsverfahrens, das sich auch die Republik Moldau und Georgien wünschen. Er spricht beim Empfang seiner Gäste in Versailles von einem "Signal", das Europa senden könne, und dass sich die Architektur Europas verändern werde.

Damit könnte aber auch gemeint sein, was manche EU-Diplomaten als "Assoziierung plus plus" bezeichnen, weil sie den baldigen Beginn von Beitrittsgesprächen für unmöglich halten: Demnach könnte die Ukraine eng an den Binnenmarkt angebunden werden, verstärkt an Programmen wie Erasmus teilnehmen oder regelmäßig eigene Minister zu EU-Treffen entsenden. "Wir wollen, dass die Regierung in Kiew weiß, dass wir sie sofort unterstützen werden, wenn der Krieg vorbei ist", argumentiert ein weiterer EU-Diplomat.

Konkreter wird in Versailles der Niederländer Mark Rutte: "Einen beschleunigten Beitritt, so etwas gibt es nicht." Er betont sofort, dass sein Land der Ukraine Waffen geschickt und sich für scharfe Sanktionen eingesetzt habe. "Ich will mich darauf konzentrieren, wie wir Wolodimir Selenskij heute und morgen helfen können", sagt Rutte - und allein die Bewertung des Antrags aus Kiew werde "Monate oder Jahre" dauern. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verknüpft die Erweiterungsfrage damit, wie gut die EU für eine noch größere Anzahl an Mitgliedern vorbereitet sei, etwa bei den Abstimmungsregeln. "Wir brauchen eine Europäische Union, die sich perspektivisch weiterentwickelt, wenn es darum geht, Entscheidungen zustande zu bringen", sagt er bei der Ankunft in Versailles.

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Estlands Premierministerin Kallas nennt es eine "moralische Pflicht", der Ukraine eine Perspektive für einen EU-Beitritt zu geben - und erklärt, warum eine amerikanische Flagge die beste Abschreckung gegen Russland ist.

Interview von Matthias Kolb

Der Gipfel droht Wladimir Putin noch mehr Sanktionen an

In vielen anderen Fragen sind sich die EU-27 jedoch einig - etwa darin, dass Russland sofort die Waffen ruhen lassen soll und man Präsident Wladimir Putin weiter mit Härte begegnen will. "Wir werden sicherstellen, dass alle Sanktionen vollständig umgesetzt werden. Und wir sind bereit, schnell mit weiteren Sanktionen zu reagieren, falls dies nötig ist", heißt es im Entwurf der Gipfelerklärung.

Sehr zur Freude von Macron, der dieses Thema seit Jahren vorantreibt, gilt es als unstrittig, dass die EU-Mitglieder viel mehr in ihre Verteidigung investieren müssen. Nachdem bereits Deutschland und Dänemark angekündigt hatten, jährlich zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in ihre Armeen stecken zu wollen, zog am Donnerstag Schweden nach. Im SZ-Gespräch lobt die Estin Kallas diese Entwicklung, die angesichts der Realitäten unvermeidlich gewesen sei. "Wenn wir in der EU früher über Sicherheitsfragen debattiert haben, hatte ich den Eindruck, dass dies für einige Länder eine nette, intellektuelle Diskussion war. Für uns Balten war es immer eine existenzielle Frage", sagt Kallas.

Daneben wollten sich die Staats- und Regierungschefs bei ihrem zweitägigen Gipfel darüber austauschen, wie die EU Energieimporte aus Russland verringern kann. Die EU-Kommission hatte am Dienstag ein Strategiepapier präsentiert; demzufolge sollen die Mitgliedstaaten bis 2027 unabhängig von diesen Gas-, Kohle- und Öleinfuhren werden. Die Regierungen sollen den Ausbau erneuerbarer Energien beschleunigen, stärker in Wärmedämmung investieren und mehr bei anderen Gaslieferanten kaufen: etwa gefracktes Flüssigerdgas, das Tankschiffe aus den Vereinigten Staaten bringen. Bislang stammt in der EU fast die Hälfte des importierten Erdgases und der Kohle aus Russland, bei Öl beträgt der Wert ein Viertel.

Diese Abhängigkeit erschwert die Debatte über weitere Sanktionen. So sagt der lettische Premierminister Krisjanis Karins, er sei "überzeugt, dass wir die Entscheidung treffen sollten, Energieimporte aus Russland zu stoppen, um Putin zum Verhandlungstisch zu bringen und den Krieg zu beenden". Doch solch ein Verbot wäre heikel, weil viele Mitgliedstaaten auf Gas oder Kohle aus Russland angewiesen sind. Auf dieses Dilemma hat Kanzler Scholz schon Anfang der Woche hingewiesen.

Soll die EU wieder gemeinsam Schulden machen?

Im Entwurf der Gipfelerklärung bekräftigen die Staats- und Regierungschefs ihre Unterstützung für das ehrgeizige Vorhaben, unabhängig von Russlands Energie zu werden, und fordern die Kommission zugleich auf, bis Mai einen detaillierten Plan vorzulegen. Zudem blicken die Spitzenpolitiker schon sorgenvoll auf den nächsten Winter und bitten die Brüsseler Behörde, noch bis Ende März ein Konzept auszuarbeiten, wie sie in den kalten Monaten eine ausreichende Energieversorgung zu bezahlbaren Preise sicherstellen will. Die Staats- und Regierungschefs betonen auch, wie wichtig es sei, Bürgern und kleinen Firmen jetzt gegen die rekordhohen Preise zu helfen. Dies soll beim nächsten Gipfel in zwei Wochen in Brüssel wieder Thema sein.

Die Kommission hatte in ihrem Strategiepapier klargestellt, dass die Regierungen in solchen Ausnahmesituationen Energiepreise für Verbraucher festsetzen dürfen. Daneben ist es möglich, Gewinne abzuschöpfen bei Energieversorgern, die gerade prächtig verdienen, und das Geld den Kunden zukommen zu lassen. Dem griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis geht das aber nicht weit genug. Er schlug vor dem Gipfel in einem Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen Sechs-Punkte-Plan vor, wie die Strom- und Gaspreise schnell zu senken seien.

Der Christdemokrat will demnach massiv in die Großhandelsmärkte für Energie eingreifen. Er möchte unter anderem den Gaspreis auf Vor-Krisen-Niveau deckeln, eine Höchstgrenze für tägliche Preisschwankungen einführen, die Gewinnmarge der Stromversorger begrenzen und spekulativen Handel verbieten. Ein EU-Diplomat aus einem eher marktliberalen Mitgliedstaat mahnte jedoch vor dem Spitzentreffen, dass die EU die eigentlich gut funktionierenden Energiemärkte nicht mit harten Eingriffen beschädigen solle.

Es wurde erwartet, dass Macron beim Gipfel auch über seine umstrittene Idee redet, erneut gemeinsame EU-Schulden aufzunehmen - ähnlich wie beim Corona-Hilfstopf. Das Geld könnte dann Regierungen bei Investitionen in ihre Armeen und die Energieversorgung unterstützen. Die Regierungen von Deutschland oder den Niederlanden verweisen jedoch darauf, dass der gut 800 Milliarden Euro schwere Corona-Fonds und der reguläre EU-Haushalt genug Möglichkeiten zur Förderung solcher Projekte böten. Italiens Ministerpräsident Mario Draghi begrüßt dagegen Macrons Vorstoß: "Italien und Frankreich sind auch auf dieser Front vollständig auf einer Linie", sagte er in Versailles.

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