Das Politische Buch:Verschlungene Pfade

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Statement mit Farbe: Olivia Jones beim Festakt aus Anlass der Feierlichkeiten zur deutschen Wiedervereinigung in der Hamburger Elbphilharmonie im Oktober 2023. (Foto: Gregor Fischer/dpa)

Ursula Weidenfeld hat eine deutsche Parallelgeschichte von 1949 bis 1990 geschrieben - über Demokratie und Diktatur und die Offenheit vieler Entwicklungen. Das Ergebnis ist lesenswert, farbig und vor allem fair.

Rezension von Werner Bührer

Das Unterfangen, eine Parallelgeschichte der beiden deutschen Staaten zu schreiben, ist keineswegs so einzigartig, wie der Klappentext behauptet. Seit den 1980er-Jahren wurden wiederholt Ansätze einer deutsch-deutschen "Verflechtungsgeschichte" diskutiert und erprobt. 2020 hat die Historikerin Petra Weber unter dem Titel "Getrennt und doch vereint" eine fast 1300 Seiten umfassende, mustergültige Darstellung vorlegt. Dennoch lohnt sich die Lektüre des Buchs "Das doppelte Deutschland" von Ursula Weidenfeld. Die Journalistin und Kolumnistin schreibt gut und engagiert, weiß an aktuelle Debatten anzuknüpfen und scheut gelegentlich vor ebenso treffenden wie bissigen Kommentaren nicht zurück, etwa wenn sie konstatiert, dass "der 17. Juni und der 13. August zu den wenigen symbolischen Jahrestagen" gehörten, die für die Menschen beiderseits der Grenze eine Rolle spielten - "vielleicht auch, weil der westdeutsche Bestand an Heldenhaftem immer überschaubar blieb".

Weidenfelds Anliegen ist es, "die Jahre der Teilung von Beginn an zu betrachten, die Einflüsse und Verflechtungen sichtbar werden zu lassen", und zwar weniger durch eine lückenlose chronologische Erzählung als vielmehr durch Tiefenbohrungen an bestimmten historischen Wegmarken. Sie stützt sich dabei auf die einschlägige geschichts- und politikwissenschaftliche Literatur, ferner Biografien, Memoiren, Tagebücher, sogar Romane, aber eher wenige unveröffentlichte Quellen aus dem Bundesarchiv und der Stasi-Unterlagen-Behörde. Grundlegend neue Erkenntnisse sind deshalb nicht zu erwarten.

Nach der totalen Niederlage ein Arrangement mit den "neue Herren"

Das erste Kapitel handelt von "Katastrophe und Neubeginn". Gleich zu Beginn hält Weidenfeld fest, dass niemand die Absicht hatte, Deutschland zu teilen - jedoch "nach fast sechs Jahren Krieg, Tod und Zerstörung der Wille, die Energie und die Vorstellungskraft" fehlten, es zu erhalten. Die anfängliche Orientierungslosigkeit auf deutscher Seite sei rasch der Einsicht gewichen, dass man sich mit der Niederlage abfinden und mit den "neuen Herren" arrangieren müsse. Sie schildert anschaulich die Wanderungsbewegungen zwischen den und innerhalb der Besatzungszonen, ebenso Hunger und Kälte. Und sie geht auch auf die systematischen Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch Rotarmisten ein, erinnert aber daran, dass es solche Verbrechen auch seitens westlicher Soldaten gegeben habe; sexuelle Gewalttaten deutscher Soldaten besonders in der Sowjetunion bleiben unerwähnt. Die doppelte Staatsgründung, die Suche nach einer neuen Identität, die halbherzige Entnazifizierung und die Anfänge des politischen Lebens sind Thema des zweiten Kapitels.

Wandbild aus dem Jahr 2015 mit der (nicht) entscheidenden Frage "Ossi oder Wessi". (Foto: Rainer Jensen/dpa)

In den Westzonen gewann nach und nach das Gefühl die Oberhand, "dass es jetzt aber auch mal gut sein müsse mit dem Büßen für die nationalsozialistischen Untaten". Unterstützt von den USA respektive der Sowjetunion entwickelte sich Deutschland zum Schaufenster des Systemwettbewerbs. Der Aufstand vom 17. Juni 1953 und der Bau der Mauer am 13. August 1961 - für die Autorin die "wirkliche Geburt der DDR" - sind die nächsten Stationen. Das erste Ereignis wurde bekanntlich per Beschluss des Bundestags vom 3. Juli 1953 zum Nationalfeiertag der Bundesrepublik erhoben: "Zum ersten und nicht zum letzten Mal", so Weidenfelds Kommentar, "hatte die Aneignung ostdeutscher Geschichte in Westdeutschland schon während des Ereignisses selbst begonnen".

Gesamtdeutscher Musikgeschmack 1968

Das fünfte Kapitel ist den Geschehnissen um das Jahr 1968 gewidmet, das für beide deutsche Staaten eine "Zeitenwende" gewesen sei - allerdings "auf völlig unterschiedliche Weise": In der DDR kam der Impuls von außen, aus Prag, weckte bei vielen Bürgern Hoffnungen auf einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", die brutal zerstört wurden; in der Bundesrepublik rebellierte der "eigene Nachwuchs" gegen das "Erfolgsmodell" und den "Muff von tausend Jahren". I n dem Generationenkonflikt, der sich übrigens auch im ziemlich ähnlichen Musikgeschmack der ost- und westdeutschen Jugendlichen im Gegensatz zu ihren Müttern und Vätern widerspiegelte, sieht Weidenfeld eine "gewisse gesamtdeutsche Gemeinsamkeit".

Ursula Weidenfeld: Das doppelte Deutschland. Eine Parallelgeschichte, 1949-1990. Rowohlt Berlin, Berlin 2024. 416 Seiten, 25 Euro. E-Book: 19,99 Euro. (Foto: Rowohlt Berlin)

Ein sehr interessantes Thema greift sie anschließend auf: den Paketverkehr zwischen der Bundesrepublik und der DDR, für sie "ein Barometer für die deutsch-deutschen Beziehungen, für die Sehnsucht nach Vereinigung ebenso wie für die Unterschiede von Markt- und Mangelwirtschaft". Insgesamt wurden in den 1950er-Jahren jährlich rund vierzig Millionen Päckchen und Pakete in die DDR geschickt, in der Gegenrichtung waren es immerhin mehr als 20 Millionen. Zwischen 1956 und 1989 belief sich der Wert der "Westpakete" auf umgerechnet vierzig bis fünfzig Milliarden Euro. Anfangs auch als Ersatz für persönliche Begegnungen eingesetzt, verloren sie indes allmählich ihre Bedeutung als emotionale Klammer. Im siebten Kapitel geht es um die Bedeutung des Sports im Systemwettbewerb. Erwartungsgemäß findet das berühmte Tor des Magdeburger Spielers Jürgen Sparwasser am 22. Juni 1974 zum 1:0-Sieg der DDR-Nationalmannschaft gegen das DFB-Team in der Vorrunde der Fußballweltmeisterschaft gebührende Erwähnung. Im Anschluss analysiert Weidenfeld den Streit um Erbe und Tradition am Beispiel der Ausstellungen zu Preußen und zu Luther.

Wiedervereinigung: Ein jubelndes Paar hat sich am Tag der Deutschen Einheit in einer DDR-Fahne dort Platz geschaffen, wo früher das Emblem Hammer und Sichel war - und feierte den historischen Anlass. (Foto: dpa)

Die letzten beiden Kapitel beschreiben die Wege und Umwege zur Einheit und die Zeit danach. Je fremder sich die Deutschen in Ost und West in den 1980er-Jahren persönlich wurden, "desto enger wurden die unsichtbaren Verkettungen", schreibt Weidenfeld: "Die Bundesrepublik stabilisierte die DDR finanziell und destabilisierte sie mental." Sie erinnert daran, dass die Bürgerrechtsaktivisten und -aktivistinnen anfangs nicht gewollt hatten, dass "die DDR verschwindet". Das Steuer hatten inzwischen jedoch andere übernommen. Die abschließenden Anmerkungen zu der Zeit "danach" fallen recht melancholisch aus. Sie handeln von Fehlern und Versäumnissen. Die "Grundannahme und Hoffnung, hier habe eine 'Wieder'-Vereinigung eines vorher zerschnittenen Gemeinwesens zu einem harmonischen Ganzen stattgefunden, stimmte nicht". Die enormen "Anpassungsleistungen", das zeigte sich bald in aller Deutlichkeit, mussten die Ostdeutschen erbringen. Freilich, das gerät mitunter in Vergessenheit: "Die Ostdeutschen wollten in ihrer Mehrheit die Vereinigung mit der Bundesrepublik."

Weggabelungen des östlichen Niedergangs

Ursula Weidenfeld hat eine um Objektivität und Fairness bemühte Parallelgeschichte geschrieben und dabei auf westdeutsches Triumphgehabe verzichtet - ohne die fundamentalen Unterschiede zwischen Diktatur und Demokratie unter den Teppich zu kehren. Als "Besserwessi" kann man sie gewiss nicht abstempeln. Es ist ihr gelungen, das zeitweise "Offene in der Entwicklung beider politischer Systeme" zu verdeutlichen und die entscheidenden Weggabelungen in Richtung des Niedergangs des östlichen Systems zu markieren - etwa die Reaktion auf die Niederschlagung des "Prager Frühlings" oder die Ausweisung Wolf Biermanns. Auch die Rolle der jeweiligen Schutzmächte kommt nicht zu kurz. Alles in allem eine wirklich lesenswerte und lehrreiche Darstellung, farbig und anschaulich und nie langweilig.

Werner Bührer ist Zeithistoriker. Er lebt in München.

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