Das Politische Buch:Jagd auf die Demokratie

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Demokratische Experimente waren in Ungarn nach 1920 schnell zu Ende. Reichsverweser Miklós Horthy (hier bei der Jagd) regierte bis 1944 - stets in guter Beziehung zu Mussolinis Italien und später dem NS-Staat. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Wie gefährdet der Parlamentarismus zu jeder Zeit war, kann man in den beiden Jahrzehnten zwischen den beiden Weltkriegen studieren. Konservative Machtträume und Hass auf die Moderne waren nicht nur ein Problem der Weimarer Republik.

Rezension von Clemens Klünemann

Berüchtigt ist Carl Schmitts Äußerung, dass souverän sei, "wer über den Ausnahmezustand entscheidet". Der Staatsrechtler schrieb diesen Satz gleich zu Beginn seines 1922 erschienenen Buchs "Politische Theologie" und damit zwölf Jahre bevor er mit der für einen Juristen außergewöhnlich präzise formulierten Definition "den Willen des Führers zum Gesetz" erklärte.

Diese skrupellose Untergrabung des demokratischen Denkens der Weimarer Republik ist in nahezu allen Facetten ausgeleuchtet und erforscht, wobei man in Deutschland oftmals den Blick auf die Chancen und Gefährdungen der Demokratie in anderen europäischen Ländern verliert. Dies zu korrigieren ist das Ziel der Herausgeber des kürzlich erschienenen Bandes über die Krisen der Demokratien in den 1920er- und 1930er-Jahren, also genau zu der Zeit, als der als "Kronjurist des Dritten Reiches" betitelte Carl Schmitt dekretierte, dass "zur Demokratie notwendig erstens Homogenität und zweitens - nötigenfalls - die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen gehört".

Es gab jeweils eigene Gründe für das Scheitern

Es versteht sich von selbst, dass die 15 Autorinnen und Autoren dieses Buches über die Krise der Demokratie unter Letzterer eben nicht den Zwang zur Homogenität verstehen, sondern das komplette Gegenteil - nämlich das Zusammenspiel von Mehrheitswille und Minderheitenschutz sowie den unblutigen Machtwechsel und den Streit mit dem politischen Gegner, der eben kein Feind ist. Ansätze dieser pluralen und rechtsstaatlichen Demokratie gab es zuhauf im Europa der Zwischenkriegszeit, aber sie scheiterten alle - alle jedoch auf unterschiedliche Weise und aus ganz unterschiedlichen Gründen. Waren beispielsweise in Italien die nationale Identitätskrise nach dem Ersten Weltkrieg und das Irredenta-Problem der an das Mutterland anzuschließenden Gebiete ein Katalysator des Untergangs von Demokratie und Parlamentarismus, so gab es diese beiden Aspekte eben nicht in Spanien - was das Land keinesfalls davor bewahrte, in die Hände eines autoritären Diktators zu fallen.

Wie ein roter Faden zieht sich die drängende Frage durch alle Beiträge dieses Buchs, was denn nun - jenseits der nationalen Besonderheiten der im Titel genannten neun Länder - die Demokratie bedroht, die eben nicht "eine deutsche Affäre" ist, wie die Historikerin Hedwig Richter vor drei Jahren in ihrem ebenso betitelten Buch schrieb. Interessant ist jedoch, die verschiedenen im vorliegenden Buch analysierten Bedrohungsszenarien der Demokratie angesichts der These Richters zu lesen, wonach der Modus der Demokratie die Krise sei: "Daher gehört zu ihrer Geschichte die fortdauernde Ankündigung ihres Endes."

Widerstand der Eliten und der Kirchen

In allen neun Ländern (Spanien, Portugal, Italien, Jugoslawien, Ukraine, Ungarn, Rumänien, Polen und Österreich) erschien die Demokratie während der 1920er-Jahre zunächst als die Lösung der jahrzehnte-, wenn nicht jahrhundertealten Probleme und wurde von vielen mit viel Engagement erkämpft und viel Zustimmung begrüßt. Und gleichzeitig traf sie auf Widerstand: ob seitens der alten Eliten aus Aristokratie und Militär wie in Spanien und Portugal oder der katholischen Kirche wie in Polen oder Österreich, welche in "der Moderne" ein zu bekämpfendes Dekadenzphänomen und in demokratischer Gesinnung eine Abkehr vom Glauben sah. Österreichische Konservative verglichen die Rolle ihres Landes mit derjenigen zur Zeit Metternichs und sahen ihr Land "als Ausgangspunkt und Zentrum einer katholischen Restauration in Mitteleuropa", während in Polen ein traditioneller Autoritarismus zum Durchbruch kam, "weil es immer weniger europäische Staaten als demokratische Vorbilder gab".

Der Faschist und sein König: Benito Mussolini und Viktor Emanuel III. von Italien bei Manövern der Armee. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Letzteres belegt ja der Blick auf die europäische Landkarte der Zwischenkriegszeit, auf der ja nur wenige - und immer weniger - demokratische Länder zu sehen waren. Dabei gab es überall - ob im äußersten Westen des Kontinents oder in Mittel- und Osteuropa - Ansätze der Demokratisierung: Dass das Buch mit einem Beitrag über "Stepan Bandera und die Krise der ukrainischen, europäischen und globalen Demokratie" anhebt, ist natürlich auch dem Euromaidan von 2014 und der aktuellen geopolitischen Situation geschuldet; allerdings ist dieser Auftakt nicht sehr glücklich, da man auf Bandera in der Tat "verschiedene Ideen projizieren und ihn als Symbol sowohl des nationalen Freiheitskampfs als auch des mörderischen Nationalismus benutzen konnte". Eine Untersuchung dieser Doppeldeutigkeit sei lange Zeit unerwünscht gewesen, "weil sie Aspekte der sowjetischen Propaganda bestätigen würde". Offenbar steht die Erforschung der Demokratietradition in der Ukraine immer noch - oder besser: schon wieder - im langen Schatten des Kalten Krieges. Vorbehaltlos zuzustimmen ist dem etwas resigniert klingenden Resümee des Ukraine-Kapitels, dass der Bandera-Kult zeige, "wie fragil die Demokratie im 20. und am Anfang des 21. Jahrhunderts in der Ukraine, in Europa und anderen Kontinenten der Welt war" - insofern ist der Ukraine-Auftakt dann doch eine gelungene Einleitung in die Analyse der Demokratie-Krisen in den anderen acht Ländern.

Frankreich und seine Probleme bleiben unerwähnt

Letztlich zeigt sich, dass die unterschiedlichen Demokratie-Ansätze der Zwischenkriegszeit zerrieben wurden zwischen einerseits dem Streben nach einer völligen Neuformatierung der Gesellschaft in Verbindung mit dem Bestreben außenpolitischer Expansion und andererseits dem Versuch, konservative Herrschaftsformen um jeden Preis zu revitalisieren: Im Zeichen der diktatorischen Regime in Berlin, Rom und Moskau flüchteten sich die meisten europäischen Länder in eine ängstlich-autoritäre Reaktion, ob dies nun die "Königsdiktatur" in Jugoslawien, der Horthy-Kult in Ungarn oder die Militärdiktatur in Madrid als Reaktion auf das Versagen der spanischen Monarchie war - für demokratischen Neuaufbruch blieb da kein Platz. Erstaunlich ist, dass die Herausgeber auf ein Kapitel über Frankreich verzichtet haben, denn in der "Agonie Frankreichs" - so der Titel der demnächst auf Deutsch erscheinenden Analyse des Untergangs der III. Republik durch den spanischen Journalisten Manuel Chaves Nogales - lässt sich die Selbstdemontage einer Demokratie der Zwischenkriegszeit studieren und damit ein besonderer Krisenmodus dieser offenbar nicht nur von äußeren Feinden bedrohten Staatsform: Es ist eben nicht nur die Geschichte der Weimarer Republik, die zeigt, dass sich der Untergang der Demokratie in der Aushöhlung der Grundrechte durch pseudolegale Verfahren ankündigte.

Michaela Maier, Maria Mesner, Robert Kriechbaumer, Johannes Schönner (Hg.): Die Krisen der Demokratie in den 1920er und 1930er Jahren. Böhlau-Verlag, Wien 2023. 232 Seiten, 40 Euro. (Foto: Böhlau-Verlag)

Ein besonderes Verdienst dieses Buches liegt darin, dass die historische Dimension immer auch als Spiegel der Gegenwart gelesen wird: Wenn nämlich deutlich wird, dass die Demokratien der Zwischenkriegszeit auch daran scheiterten, dass die Trennlinie zwischen Demokratiekritik und Demokratieverachtung nicht scharf genug gezogen wurde und dass Technikfaszination zunehmend an die Stelle gesellschaftlicher Ideale trat, was der Soziologe Karl Mannheim als "Diskrepanz zwischen funktioneller und substantieller Rationalität" bezeichnete. Und wenn es in Bezug auf das Spanien der 1930er-Jahre heißt, dass immer mehr Bevölkerungsgruppen marginalisiert wurden und dass die Demokratie in Teilen der Gesellschaft zwar neue Hoffnungen weckte, sich aber als unfähig erwies, die offenkundigen Probleme zu erkennen, geschweige denn zu lösen, dann wird die Lektüre dieses Buches über die Krisen der Demokratien in der Zwischenkriegszeit zur Warnung an heutige demokratische Politiker und Politikerinnen, die Gefährdung dieser Regierungsform immer mitzudenken.

Clemens Klünemann ist Honorarprofessor am Institut für Kulturmanagement der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.

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