Eine deutsche Affäre:Körper, Kummer

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Hedwig Richter: Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Verlag C. H. Beck, München 2020. 400 Seiten, 26,95 Euro. (Foto: N/A)

Hedwig Richter erzählt die Geschichte der deutschen Demokratie und legt dabei besonderen Wert auf Körperlichkeit.

Von Franziska Augstein

In einer Kurzerzählung von Alfred Polgar gehen vier Männer spazieren: der Philosoph, der Fanatiker, der Schlichte und der Kluge. Am Abend im Bett überdenkt der Kluge das Gespräch: "Eine falsche Behauptung von vorhin wurmt ihn. Doch was ist falsch? Es kommt auf den Elastizitätsgrad einer Behauptung an, nicht auf ihren Inhalt." Was der Kluge da gedacht hat, ist das beste, was über Hedwig Richters Buch "Demokratie. Eine deutsche Affäre" zu sagen ist. Es ist für den Bayerischen Buchpreis nominiert und steht auf der Shortlist für den NDR-Kultur-Sachbuchpreis. Aber das Buch ist äußerst elastisch: Völlig unklar ist, was die Autorin eigentlich sagen will.

Hedwig Richters Buch ist im Wesentlichen eine Rekapitulation der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, dazu gehört auch, wie Deutschland zu einer Demokratie wurde. In der Einleitung präsentiert sie drei "Thesen". Die erste: "Demokratiegeschichte ist nicht immer, aber häufig ein Projekt von Eliten." Dieses ist keine These, es ist seit Langem bekannt. Hedwig Richter macht sich nicht die Mühe, dieses Thema analytisch zu erläutern. Zu empfehlen ist zu dieser Frage das großartige Buch von Ute Daniel "Postheroische Demokratiegeschichte", in dem die Historikerin erklärt, warum es ein Anliegen der jeweils Regierenden in Deutschland und Großbritannien war, das Wahlrecht auszuweiten (Hamburger Edition, 2020).

Die zweite "These" von Hedwig Richter: "Demokratiegeschichte ist immer auch die Geschichte ihrer Einschränkung." Auch das ist keine These, das ist bestenfalls eine Feststellung. Dass nichts gut Gedachtes in der Wirklichkeit vollendet wird, müssten erwachsene Menschen wissen.

Nun zur dritten "These" von Hedwig Richter: "Demokratiegeschichte - das ist die dritte These dieses Buches - ist wesentlich eine Geschichte des Körpers, seiner Misshandlung, seiner Pflege, seines Darbens - und seiner Würde." Historiker sind nicht genötigt, gut zu schreiben. Freilich, diese Wörter sind so miserabel zusammengesucht, dass sie wehtun. Knochentrockene Sätze, wofür deutsche Historiker früher bekannt waren, sind eiernder Expressivität bei Weitem vorzuziehen.

Weil die ersten zwei "Thesen" von Hedwig Richter keine sind, soll es hier nun um die dritte gehen. Die Autorin will das Entstehen der Demokratie aus dem "Körper" heraus oder mit dem "Körper" erklären. Was die Autorin schreibt, ist nicht schlüssig, jedenfalls dann nicht, wenn sie sich von der Wiedergabe von Erkenntnissen anderer Historiker entfernt. Deshalb wird im Folgenden getreulich zitiert und ein wenig kommentiert.

Im Bezug auf die Bauernaufstände im 16. Jahrhundert schreibt Richter: "Es spricht viel dafür, dass die extreme körperliche Ungleichheit (...) über die Zeiten hinweg als ein Unrecht empfunden wurde." Im Bezug auf die Französische Revolution schreibt sie: "Revolution stand für Gewalt, für die Missachtung der Körper und der Menschenwürde." Dazu ist anzumerken: Die Wörter "körperliche" und "Körper" geben keinen Erkenntnisgewinn. Man kann sie aus den zitierten Sätzen herausnehmen, und nichts ändert sich am Sachgehalt, der aus vorhandener Literatur zusammengeschrieben ist.

Im 19. Jahrhundert kamen in Europa die Frauen und sogar Männer auf die Idee, dass Frauen mehr sein könnten als nette Accessoires und Wirtschafterinnen im Haushalt. Gleichwohl unterstanden Mädchen ihrem Vater, Frauen unterstanden dem Ehemann. Wenn in, sagen wir, Britannien eine Frau die Ehe einging, ging ihr Vermögen damit automatisch an ihren Gatten. Die Frauen damals dürften sich weniger Sorgen um ihren Körper gemacht haben, als vielmehr um ihre Rechte und - sofern sie einen Glücksspieler als Gatten hatten - um ihr Geld.

Mit Bangen verfolgt man dann, wie sich die Autorin der Shoah nähert

Weiter geht es nun mit Hedwig Richters Sätzen über den Körper. Sie erklärt Bismarcks Sozialgesetzgebung zugunsten der Arbeiter so: "Ihr Körper galt als schützenswert, und mit dem Ziel, ihre Würde zu verteidigen, ließen sich Wahlen gewinnen und Staat machen." Und dann auch: "Die Sorge um den Körper und um seine Würde lässt sich nicht ohne den wachsenden Wohlstand verstehen." Das kann man konziser formulieren: Demokratische Gemeinwesen können von Dauer sein, wenn ein gewisser Wohlstand der Bürger gegeben ist. Hedwig Richter nun wieder: "Die Reformzeit um 1900 setzte (...) neue Standards auch für den Körper, der zunehmend über Klassen- und Geschlechtergrenzen hinweg normiert wurde." Was die Autorin mit "normiert" meint, ist unverständlich, weshalb dieser Satz als einfache Stilblüte im großen körperlichen Blumenstrauß stehen bleiben muss.

Mit Bangen sieht man bei der Lektüre dieser chronologisch hererzählten deutschen Geschichte der Shoah entgegen. Wie wird die Autorin, die sich mit ihrer Körper-These wichtig macht, das aufgreifen? Sie beschreibt die Deportation in ein Ghetto oder gleich in ein Konzentrationslager so: "Die Person besitzt nicht mehr ihren Körper, sie besitzt keine Wohnstatt mehr." Das NS-Regime fasst sie so zusammen: "Das Wesen des Nationalsozialismus war der Krieg, in seinem Herzen steht die Gewalt." Wer nicht formulieren kann, dem sollte man nicht vorwerfen, dass er dem NS-System ein Herz zubilligt. Die Lage der Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg schildert Hedwig Richter, wie sie ihr ganzes Buch geschrieben hat: ungenau, völlig unanalytisch, versetzt mit einzelnen interessanten Zitaten und angelesenen Beobachtungen.

Alfred Polgar hatte auf seinen Spaziergang vier Männer geschickt. Von dem Klugen war eingangs die Rede. Der Schlichte hat in der kurzen Erzählung das letzte Wort: Er "murmelte, ehe er sanft und rasch entschlief: ,Öde, so ein Abend ohne Frauen'."

© SZ vom 04.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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