Buch-Rezensionen

Ruhrkampf, Rindfleisch und Revolte

"Da um uns herum alles barst und schwankte, woran hätten wir uns halten, nach welchen Gesetzen orientieren sollen?"

Die Bücher heißen „Außer Kontrolle“, „Ein deutsches Trauma“, „Das Jahr am Abgrund“, „Kampf um die Republik“ oder „Totentanz“. Neun Werke über das Krisenjahr 1923.

Buch-Rezensionen

Ruhrkampf, Rindfleisch und Revolte

"Da um uns herum alles barst und schwankte, woran hätten wir uns halten, nach welchen Gesetzen orientieren sollen?"

Die Bücher heißen „Außer Kontrolle“, „Ein deutsches Trauma“, „Das Jahr am Abgrund“, „Kampf um die Republik“ oder „Totentanz“. Neun Werke über das Krisenjahr 1923.

Von Robert Probst
27. Januar 2023 - 6 Min. Lesezeit

Kaffeehaus und Kater

Den 1923-Wettbewerb eröffnete ein erfahrener Kenner der Jahresbücher. Der Publizist Christian Bommarius hatte zuvor schon das Gründungsjahr der Bundesrepublik 1949 ziseliert. Flott erzählt und fein montiert lässt der Autor für das Katastrophenjahr ein Großaufgebot damals berühmter Menschen aufmarschieren und ihre Gefühle, Eindrücke und Ängste ausbreiten. Es geht vor allem ums Berliner Kulturleben, der Politikbetrieb der Hauptstadt wird nur gestreift. Eine Gesamtdarstellung gibt es also nicht, dafür umso intensiver die Rückwirkungen der Krise auf die – zumeist privilegierten – Menschen. Wirtschaftsbosse, Antisemiten und Extremisten aller Art treten auch auf. Ein Meisterstück der archivalischen Collagen-Reportage; schönes Extra: Was mit den Protagonisten weiter geschah.

Christian Bommarius: Im Rausch des Aufruhrs. Deutschland 1923, dtv, München 2022. 353 Seiten, 14 Euro (TB).

Babylon Berlin

Eigentlich auch kein politisches Buch, aber dennoch unentbehrlich zum Verständnis der Zeit. Der Publizist Armin Fuhrer hat sich die „Lebenswirklichkeit“ der Berliner im Krisenjahr vorgenommen und sehr viele bunte, düstere und erschreckende Details über das erst 1920 entstandene Groß-Berlin mit seinen 3,8 Millionen Einwohnern zusammengetragen: über die bittere Not derer, die unter der Hyperinflation litten; über die Geschäfte der „Raffkes“ oder Schieber. Fuhrer klärt auf über neue Moden, neue Freiheiten und wie die zunehmende Perspektivlosigkeit die Menschen dazu trieb, einfach nur leben zu wollen, wild und exzessiv. Es geht ausführlich um Sex und Crime, um Prostitution und Drogenrausch. Um „Tanzwut“, „Spielwut“ und nicht zuletzt um die „Nacktkultur“. Es zeigt die Realität der Geld- und Werte-Entwertung. Ganz nah dran am „Sündenbabel“.

Armin Fuhrer: Hunger & Ekstase. Berlin 1922/23. Elsengold, Berlin 2022. 240 Seiten, 26 Euro.

Blut und Eisen

Die einzige Analyse aus dem Ausland über das Deutsche Reich. Der in Dublin lehrende Mark Jones hatte schon mit einem Buch über die Revolution 1918/19 einiges Aufsehen erregt. Vor allem die detaillierte Schilderung von Gewaltszenen hatte man bisher so nicht gelesen, die „Schuld“ für die Gewalt hat der irische Historiker bei der damals regierenden SPD abgeladen – was nicht jedem Fachkollegen gefiel. Auch in „1923“ rumst es gewaltig. Jedes Kapitel (auch hier alles chronologisch geordnet) beginnt mit einer Gewaltszene. Der ganz große Schuldige ist diesmal der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré. Brisante Details auch über die Untaten der französischen Besatzungssoldaten im besetzten Ruhrgebiet. Die kommunistische Gefahr wird eher vernachlässigt. Flott geschrieben. Am Schluss ein Hoch auf die deutsche Demokratie! Gefällt auch nicht jedem.

Mark Jones: 1923. Ein deutsches Trauma. Propyläen, Berlin 2022. 384 Seiten, 26 Euro.

Berlin Mitte

Konsequent von der Chronologie löst sich der Historiker und Publizist Volker Ullrich. Er versucht recht überzeugend, „das verwickelte Knäuel der Krisenphänomene zu entwirren und die Fäden unter thematischen Gesichtspunkten neu zu ordnen“. Die Darstellung konzentriert sich – mit Ausnahme eines recht überschaubaren Kulturkapitels – vollends auf die Reichspolitik. Die Protagonisten sind also vor allem Politiker, Generäle, Industrielle und zahllose Extremisten (Hitler et al.) Im Vordergrund stehen die Akten aus der Reichskanzlei. Dazu lässt Ullrich mächtige Zitatpassagen aus Zeitungen, Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen auf die Leser einprasseln. Auffällig ist die sehr positive Zeichnung von Kanzler Gustav Stresemann. Eine sehr gut geschriebene Gesamtdarstellung, allerdings zurückhaltend im Urteil.

Volker Ullrich: Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund. C.H. Beck, München 2022. 441 Seiten, 28 Euro.

Roher Reigen

Hugo Stinnes isst ein Stück Rinderbrust. Und das Volk muss in Suppenküchen verköstigt werden, damit es nicht verhungert. Die Zeit-Journalistin Jutta Hoffritz hat ihr 1923-Buch auf ungewöhnliche Weise verfasst, im Stakkato-Stil (nach ein, zwei Sätzen gleich ein Absatz) und im schnellen Wechsel zwischen etwa zehn Hauptprotagonisten, unter ihnen der Ruhrbaron Stinnes, Reichsbankpräsident Rudolf Havenstein, Kurt Tucholsky, der rheinische Separatist Hans Adam Dorten oder Käthe Kollwitz. Simuliert werden soll so wahrscheinlich eine Art „Totentanz“. Funktioniert aber nur mäßig. Stinnes problematische Rolle wird kaum ausgeleuchtet, er kommt als guter Geschäftsmann weg; Havenstein bleibt seltsam blass. Anita Berber kommt auch vor und ein paar Kommunisten. Kein roter Faden auf dem glatten Tanzboden! Stattdessen viel Weißraum.

Jutta Hoffritz: Totentanz. 1923 und seine Folgen. HarperCollins, Hamburg 2022. 334 Seiten, 23 Euro.

Rotfront Sachsen

Eine der wenigen aktuellen Regionalstudien. Der Historiker Karl Heinrich Pohl ruft in Erinnerung, dass damals Mitteldeutschland von Sachsen bis Braunschweig als „rote Bastion“ wahrgenommen wurde. Stark organisierte Textilarbeiter, sehr starke SPD, viele Kommunisten. Pohls steile (nicht neue) These: Die längerfristige Zusammenarbeit von SPD und KPD in Sachsen hätte die Republik nicht destabilisiert, sondern vielmehr im Sinne einer Transformation in eine soziale Demokratie weiterentwickeln können. Viele interessante Details über linke Schul- und Polizeipolitik. Aber am Ende keine klare Haltung, ob die „sprunghafte“ KPD nicht nur zum Schein in die Regierung eintrat – um von dort aus die Revolution im Sinne Moskaus zu starten. Dennoch erfrischender Perspektivwechsel, wenn auch nur als Gedankenexperiment.

Karl Heinrich Pohl: Sachsen 1923. Das linksrepublikanische Projekt – eine vertane Chance für die Weimarer Demokratie? Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2022. 307 Seiten, 45 Euro.

Rechte Gefahr

Die mit Abstand beste Gesamtdarstellung, analytisch scharf und erhellend. Der Historiker Peter Longerich schaut auf die Ereignis- und Strukturgeschichte und schafft es ganz gut, das „komplexe Ereignisbündel“ zu entwirren. Der Chronologie entkommt er aber auch nicht. Sieht die Gefahr für die Republik vor allem von rechts und erklärt schlüssig, wie Hitlers rechtsextremer Putschismus die rechtskonservativen Staatsstreichpläne (Stichwort: Direktorium) durchkreuzte. Hat als Einziger sehr hilfreiches Kartenmaterial. Und hat den originellsten Ansatz zum Hitlerputsch: 2,5 Seiten genügen („Die weiteren Ereignisse sind oft dargestellt worden“.) Longerich kommt zu einem sehr düsteren Schluss: Kein einziges strukturelles Problem wurde Ende 1923 behoben, die Normalität war nur ein „Schein“. Und: bestes Coverbild.

Peter Longerich: Außer Kontrolle. Deutschland 1923. Molden, Wien 2022. 318 Seiten, 33 Euro.

Weiter Winkel

Schon mal gehört? Vertrag von Lausanne. Das große Erdbeben von Kantō. Ägyptomanie. Ja, auch das ist alles im Jahr 1923 passiert. Aber halt nicht in Deutschland. Ein Aufsatzband weitet endlich mal die Perspektive und zeigt auf, wie das Krisenjahr „die Welt erschütterte“. Zwar ist bei deutschen Themen die Stimmung oft eher düster, Ruhrbesetzung, Hitlerputsch, rassistische Karikaturen ... Vor allem aber erklären die Autoren, dass nicht alles an dem Jahr katastrophal krisenhaft war, sondern dass es auch Aufbrüche gab oder Erfreuliches wie etwa die Entdeckung des Tutanchamun-Grabes. Alles, was nicht im Deutschen Reich spielt, hilft weiter, den selbstbespiegelnden Blick zu schärfen, etwa beim Thema Bevölkerungsaustausch zwischen der neu gegründeten Türkei und Griechenland (Lausanne). Anregende Abwechslung.

Nicolai Hannig, Detlev Mares (Hg.): Krise! Wie 1923 die Welt erschütterte. wbg, Darmstadt 2022, 240 Seiten, 40 Euro.

Linke Gefahr

Eine weitere Gesamtdarstellung des Schicksalsjahrs hat gerade Ralf Georg Reuth vorgelegt. Der Publizist und Historiker ist es gewohnt, eine große Stoffmenge zu verarbeiten („Kurze Geschichte des Zweiten Weltkriegs“). Und das beweist er auch hier – kein anderes Werk bietet wohl auf dem vorhandenen Platz mehr Details und Einzelheiten. Mögliches Motto: alles erzählen, Analyse ergibt sich von selbst. Die extreme Verdichtung hilft nicht immer bei der Lektüre, aber Reuth wirft einen viel intensiveren Blick auf die Politik der Friedensmächte von Versailles als die anderen – ein echter Pluspunkt. Vor allem aber lenkt er seine Aufmerksamkeit nach Moskau, wo aus seiner Sicht eine kommunistische Umsturzpolitik geschmiedet wurde, die den rechten Umtrieben im Deutschen Reich in nichts nachstand. Sein Fazit: Alle Umstürzler von rechts und links scheiterten an Stresemann.

Ralf Georg Reuth: 1923. Kampf um die Republik. Piper, München 2023. 368 Seiten, 28 Euro.

Team
Text Robert Probst
Digitales Storytelling Thomas Gröbner