Das Politische Buch
Die taumelnde Staatsmacht
„Weshalb vergeude ich kümmerliche Worte darum, um denen diesen Winter begreiflich zu machen, die ihn nicht miterlebt haben? Es sind und bleiben Worte nur und doch umspannen sie den ganzen tragischen Zusammenbruch unausgeträumter Hoffnungen ungezählter, namenloser Helden und Märtyrer. Die Nachwelt wird wenig verständnisvoll dieser Zeit gegenüberstehen.“ So schrieb der heute vergessene Schriftsteller Herbert Brandt 1930 im Rückblick auf das verrückte Jahr 1923. Wie steht nun die Nachwelt 100 Jahre später zu diesen Ereignissen? Guckt sie nur „Babylon Berlin“, Hitler-Dokus oder greift sie in den Buchhandlungen in die hohen Stapel der 1923-Sachbücher?
Viel ist bereits geschrieben worden über die Faszination für und die Abneigung gegen Jahreszahlen-Bücher im Allgemeinen und speziell zu 1923. Aber was steht nun eigentlich drin in diesen zahlreichen Werken? Nach der Lektüre von Hunderten Seiten kann festgehalten werden: Die Bewertung der lange bekannten, dramatischen Ereignisse fällt dann doch erstaunlich uneinheitlich aus. Neun Bücher liegen dieser Analyse zugrunde, vollständig ist die Liste aber nicht. Das erste 1923-Werk erschien im vergangenen März, das vorerst letzte vor wenigen Tagen.
Nacherzählung vs. Thesenstärke
Das Jahr 1923 erzählt sich quasi von selbst. Es braucht keine ordnende Hand, weil es vom Beginn der Ruhrbesetzung durch Frankreich und Belgien (Januar) bis zum Scheitern des Hitlerputsches (November) und der Einführung der Rentenmark eine ständige Steigerung von Krisen hervorbrachte, die alle miteinander verbunden waren: passiver Widerstand, wankende Koalitionen, mehrere Regierungswechsel, Extremismus von rechts und links, Separatismus-Bestrebungen und dazu Not, Elend und Hyperinflation. Die Folge: Spaltung, Hysterie, Bürgerkriegsgefahr. Und darum sind fast alle Gesamtdarstellungen mehr oder weniger ein breit fließender Strom von Ereignissen und Deutungen der Zeitgenossen. Die meisten sind sogar chronologisch geordnet (Mark Jones, Ralf Georg Reuth, Christian Bommarius, Jutta Hoffritz). Nur Peter Longerich und Volker Ullrich wählen bewusst einen anderen Ansatz und arbeiten mehrere Komplexe im Zusammenhang ab. Die Gefahr, die beide Ansätze in sich tragen: Weil alle akribisch recherchiert haben, wird alles aufgeschrieben – nicht selten wird der Erzählstrom dann aber allzu breit und zähflüssig.
Viel Neues erfährt man insgesamt nicht, die Quellen und Fakten sind ja bestens erforscht, die komplexe Vorgeschichte seit der Revolution von 1918 wird oft nur skizziert, wenn überhaupt – aber schöner erzählt wurde nie vom Krisenjahr. Nur ein Beispiel: „Die Deutschen schwimmen im Geld und drohen darin zu ertrinken.“ (Bommarius)

Eine steile neue These gab es aber doch, der irische Historiker Jones hat sie vorgebracht, demnach war „Deutschland das ganze Jahr über Opfer der französischen Aggressionen“. Und zwar vor allem die Demokraten und Republikaner seien vom französischen Ministerpräsidenten Raymond Poincaré gezwungen worden, ihren Abwehrkampf gegen rechts „mit einer auf den Rücken gefesselten Hand“ zu führen. Schon die SZ-Rezensentin Stefanie Middendorf (Uni Jena) hat dieses Entlastungsnarrativ im Sommer deutlich zurückgewiesen. Im aktuellen Sammelband (Hanning/Mares) urteilt der Marburger Historiker Eckart Conze: Zwar nehme der „Opferbegriff eine zeitgenössische Selbstwahrnehmung vieler Deutscher auf, aber es bleibt fraglich, ob Kategorien wie ‚Opfer‘ – und damit zwangsläufig auch ‚Täter‘ – der Komplexität der politischen Entwicklung der 1920er-Jahre gerecht werden“. Ebenso wäre zu fragen „ob nicht die Moralisierung, die sich mit diesen Begriffen verbindet, eine differenzierte historische Urteilsbildung erschwert, wenn nicht verhindert“. Eine ähnlich wilde Debatte wie nach Christopher Clarks Buch „Die Schlafwandler“, das in Teilen auch als Entlastung der Deutschen beim Beginn des Ersten Weltkriegs gedeutet wurde, blieb aber bisher aus.
Die deutschen Monografien schauen übrigens mit Ausnahme der von Reuth kaum über die Reichsgrenzen hinaus, wo es nicht unbedingt notwendig zu sein schien. Ohne aber die Haltung der ehemaligen Alliierten in Washington und London zu Paris und Berlin zu erklären, bekommt man eher kein klares Bild von der Ruhrbesetzung und dem Reparationsdilemma. Dass bei der Kritik an Jahreszahlen-Büchern so oft der Ausdruck Selbstbespiegelung und Selbstvergewisserung vorkommt, ist durchaus nachvollziehbar.
Anita Berber vs. Gustav Stresemann
Eine erstaunliche Beobachtung am Rande: Wo Anita Berber eine Hauptrolle spielt, ist für Gustav Stresemann kein Platz. Und umgekehrt. Berber war ein Star im „Sündenpfuhl“ Berlin, ihre Spezialität war der Nackttanz. Große Auftritte bei Bommarius, Fuhrer und Hoffritz.

In den politischeren Büchern von Ullrich und Longerich war nur Platz für ein wenig Hochkultur. Die anderen ignorierten Berber ganz. Nun gehörten aber zur gesellschaftlichen Krise dieser Monate zumindest in den Großstädten auch derartige Lustbarkeiten, „Tanz- und Sexwut“ (Fuhrer). Überall sonst herrschte in breiten Bevölkerungsschichten die blanke Not. Politik und Gesellschaftsgeschichte, Vergnügungssucht und Verzweiflung sozusagen, in einem Buch zusammenzuführen, ist hier niemandem gelungen.
Hugo Stinnes vs. Moskau
Wer waren nun eigentlich die „Bösen“ in diesem 1923-Spektakel? Wie Jones hat auch Reuth nicht viel übrig für den „Deutschlandhasser“ Poincaré und die „unerbittliche Härte des Élysées“ (ganz Frankreich scheint bei allen Autoren übrigens nur aus Poincaré und ein paar Offizieren zu bestehen). Eher am Rande erwähnt Reuth aber auch, dass „das Schicksal des besetzten Gebiets zu einem Gutteil in den Händen von ausschließlich profitorientierten Industriellen liegt, denen die Nation letztendlich gleichgültig ist“.

Sehr viel expliziter benennt Longerich den Ruhrbaron und Inflationshauptgewinnler Hugo Stinnes als sinistren Strippenzieher der Reichspolitik. Als DVP-Abgeordneter hatte er direkten Zugang zu den Machtzentren in Berlin und strickte kräftig an seiner „eigenen Agenda“, die da lautete: noch mehr Geld verdienen, die sozialpolitischen Errungenschaften der Revolution (Stichwort Achtstundentag) zurückdrehen und in der Hochphase der Krise sich für einen Staatsstreich zugunsten eines stramm rechtskonservativen diktatorisch regierenden „Direktoriums“ einsetzen. Mit in diesem Stinnes-Boot saß laut Longerich auch der Chef der Heeresleitung, Generaloberst Hans von Seeckt, der für einen rechtswidrigen politischen Systemwechsel bereit gewesen sei. Nur einen Putsch lehnte Seeckt strikt ab. Und so sei es gekommen, dass Hitlers Putsch am 8./9. November „auch alle übrigen Staatsstreich- und Diktaturpläne“ delegitimierte. Hitler, der Reichswehr und Polizei nicht hinter sich brachte, hat also – überspitzt gesagt – 1923 die Republik gerettet, indem er die deutlich aussichtsreicheren Rechtsdiktatur-Pläne in Berlin durchkreuzte.
In die entgegengesetzte Richtung deutet hingegen Reuth, indem er die „zumeist einseitige Fixierung auf die Bedrohung der Republik von rechts“ kritisiert und die Gefahr eines bolschewistischen Umsturzes in Mitteldeutschland (Stichwort: Deutscher Oktober) in grellen Farben ausmalt. Dass in Moskau viele Vorgänge in Deutschland völlig falsch eingeschätzt wurden und dass die Arbeiterschaft in Sachsen und Thüringen nicht zur Revolution bereit war, mindert für Reuth nicht die Existenz eines solchen „großen linken Umsturzherdes“.
„Glanztat“ vs. Zufallssieg
Und wer waren die „Guten“? Hier besteht mehr Einigkeit. Für Ullrich war der 103-Tage-Kanzler Gustav Stresemann ein „entschlossener Verteidiger der verfassungsmäßigen Ordnung“. Der DVP-Politiker bewahrte Deutschland 1923 vor „Zusammenbruch und Chaos“, schreibt Reuth, auch wegen seines „beherzten Vorgehens gegen Sozialisten und Kommunisten“. Eine Handvoll Demokraten hätten eine „politische Glanztat“ vollbracht. Und die Reichswehr stand „treu zur Republik“.

Am weitesten geht auch hier wieder Mark Jones. Er hält den „Sieg der Demokraten am Ende des Jahres 1923“ für deren größten Erfolg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bedeutender als die Republikgründung 1918. Den Deutschen empfiehlt er 2023 sogar eine „Feier ohne Trauma oder Furcht, ohne chauvinistisches Getöse“.
Longerich hält dem Kanzler allerdings nur den Abbruch des Ruhrkampfs und die Stabilisierung der Währung zugute. Von einer „erfolgreichen Bewältigung“ der Krise durch eine fähige Regierung will er explizit nicht sprechen. Dass die „totale Eskalation der Krise nicht stattfand“, also die Errichtung einer Rechtsdiktatur, rechnet er nicht dem Krisenmanagement der Regierung zu, sondern der gegenseitigen Blockade von rechtskonservativen und rechtsextremen Kräften. (Zum Hitlerputsch werden in Kürze auch neue Bücher auf den Markt kommen.)
Merkwürdigerweise nur am Rande taucht in all den Werken Reichspräsident Friedrich Ebert auf. Dabei war der SPD-Politiker der entscheidende Mann, der fester als die meisten anderen auf demokratischem Boden stand. Er nutzte den kompletten Besteckkasten der Reichsverfassung (Ermächtigungsgesetz, Notverordnungen, Ausnahmezustand, Presse- und Parteienverbot, Übertragung der vollziehenden Gewalt auf die Reichswehr, Reichsexekutionen), um die Republik zu retten. Sein Nachfolger Paul von Hindenburg tat das nach 1930 auch – aber um die Republik zu zerstören, gemeinsam mit den Rechtskonservativen und den Hitler-Leuten.
Phase der Beruhigung vs. „Stabilitätsillusion“
Geriet die Republik also Anfang 1924 in ruhigeres Fahrwasser? Reuth („Die Zeit der Extremisten war in Deutschland vorüber“) und Jones („Am Ende des Krisenjahres standen die deutschen Demokraten aufrecht“) bejahen das; Ullrich attestiert der Republik zwar eine „erstaunliche Überlebensfähigkeit“, bleibt gleichzeitig aber sehr skeptisch („Das scheinbar beruhigende Bild einer gefestigten Demokratie zeigte ... Risse“), der ökonomische Aufschwung sei nicht nachhaltig gewesen.

Gänzlich düster ist der Ausblick bei Longerich. „Die allgemeine Erleichterung, die nach der Krise mit der scheinbaren Rückkehr zur Normalität einkehrt, lenkt von dem Weiterexistieren der eigentlichen Krisenursachen ab“, schreibt er und nennt etwa die Abkehr breiter Schichten von den Parteien, die Spaltung der Gesellschaft infolge der Inflation, das Anwachsen linker und rechter Extremisten und die weiterhin starke Ablehnung des Vertrags von Versailles. Longerich spricht in dem Zusammenhang von „Stabilitätsillusion“. Womöglich ist das der Begriff, den man sich am Ende einprägen sollte.