Europapolitik:Größer, zugleich aber auch stärker

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Auf bis zu 37 Mitglieder könnte die EU wachsen, Außenministerin Baerbock möchte die Grundlagen dafür legen. (Foto: Felix Zahn/Imago/photothek)

Die Bundesregierung setzt sich für eine Erweiterung der EU ein. Doch dafür muss diese sich erst selbst reformieren. Außenministerin Baerbock hat auf einer Konferenz in Berlin ihre Ideen dazu vorgestellt.

Von Paul-Anton Krüger, Berlin

Zu den politischen Schlüsselerlebnissen im Leben von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock zählt die Nacht zum 1. Mai 2004. Damals feierte sie mit dem ersten grünen Außenminister Deutschlands, Joschka Fischer, und dessen polnischem Kollegen Włodzimierz Cimoszewicz auf der Oderbrücke, die Frankfurt mit Słubice verbindet, den Beitritt Polens zur Europäischen Union.

Es war die letzte große Erweiterung, zehn Staaten wurden damals aufgenommen. Mit Jahresbeginn folgten 2007 noch Bulgarien und Rumänien, 2013 wurde Kroatien Mitglied. Nun, in Baerbocks Amtszeit als Außenministerin, sollen zumindest die Grundlagen für die nächsten Erweiterungen gelegt werden, nach deren Abschluss die EU von 27 auf bis zu 37 Mitglieder wachsen könnte.

Den Westbalkanstaaten hatten die Staats- und Regierungschefs der EU schon 2003 in Thessaloniki zugesichert, dass ihre Zukunft in der Europäischen Union liege. Das umfasst heute Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien. Beim Gipfeltreffen im Dezember in Brüssel werden sie, gut 20 Jahre später, voraussichtlich über die Anträge der Ukraine und der Republik Moldau zur Aufnahme von Beitrittsgesprächen zu entscheiden haben.

Zudem hat Georgien wenige Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine einen formellen Antrag auf EU-Mitgliedschaft eingereicht. Die 2005 begonnenen Verhandlungen mit der Türkei, bei denen 16 der 35 Kapitel eröffnet wurden, sind 2016 zum Stillstand gekommen und seither nicht wiederaufgenommen worden. Sie wurden aber auch nicht formell abgebrochen.

Ohne Reform der EU keine Erweiterung

Es gehe bei dieser Erweiterung nicht um Altruismus, so formulierte es Bundeskanzler Olaf Scholz im Mai in seiner Rede vor dem Europaparlament. Es gehe um die geopolitische Schlussfolgerung aus dem russischen Angriffskrieg, darum, den Frieden in Europa dauerhaft zu sichern. Das ist inzwischen weithin Konsens in Europa.

Klar ist auch, dass die Europäische Union selbst ihr institutionelles Gefüge reformieren muss, will sie nach einer Erweiterung, die wohl nach und nach kommen würde, handlungs- und entscheidungsfähig bleiben und in einer stärker multipolar geprägten Welt international als Akteur an Gewicht gewinnen. Baerbock hat für diesen Donnerstag Außenminister aus der EU und den Beitrittsaspiranten ins Auswärtige Amt geladen, um diese Debatte voranzutreiben. Sie hat dabei auch in einer europapolitischen Grundsatzrede konkrete Reformvorschläge unterbreitet.

Baerbock regt an, dass die Menschen in den Beitrittsländern schon schrittweise in den Genuss von Vorteilen der EU kommen sollen, noch bevor ihr Land formell Mitglied der Union wird. Einen solchen Ansatz hatte jüngst auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) bei einem Gipfeltreffen mit den Westbalkanstaaten in Tirana angekündigt. Die Staaten sollen demnach Zugang zu bestimmten Bereichen des EU-Binnenmarktes erhalten.

Geld aus Brüssel an Rechtsstaatlichkeit knüpfen

Baerbock will außerdem mehr EU-Programme für die Beitrittsländer öffnen, etwa bei der Forschungsförderung, beim Roaming für den Mobilfunk oder vereinfachten Visaverfahren. Ebenfalls vorstellen kann sie sich, dass die Länder schrittweise in die EU-Strukturen eingebunden werden und etwa an EU-Ministerräten als Beobachter teilnehmen können - in jenen Bereichen, in denen sie Verhandlungskapitel mit der EU-Kommission erfolgreich abgeschlossen haben.

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Zugleich will die Außenministerin, wie sie immer wieder betont, keine Abstriche bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zulassen und auch keine Abkürzungen im Beitrittsprozess. Wer in den Genuss der Vorteile der EU kommen will, so sieht es Baerbock, muss konsequent die rechtsstaatlichen Standards einhalten - was auch für jene Staaten gelten müsse, die bereits Mitglieder sind. Die Auszahlung von EU-Mitteln soll nach ihrer Ansicht stärker davon abhängig sein und auch die Verfahren innerhalb der EU zur Ahndung von Verstößen nach Artikel 7 des EU-Vertrags vereinfacht werden.

Mehrheitsentscheidungen statt Vetorechte

Auch im fein austarierten Machtgefüge der Europäischen Union sieht die Grünen-Politikerin Änderungsbedarf. Die Erweiterung dürfe nicht zur Folge haben, so heißt es im Auswärtigen Amt, dass die EU-Kommission und das Europäische Parlament immer weiter wachsen. Im Umkehrschluss heiße das, auch Deutschland und andere große Mitgliedstaaten müssten bereit sein, zeitweise auf einen Posten in der EU-Kommission zu verzichten. Größere Zuständigkeitsgebiete könnten zudem von mehreren Ländern gemeinsam betreut werden. Das soll kleineren Staaten die Sorge nehmen, ihr Mitspracherecht in der Kommission zu verlieren.

Zugleich, das hatte auch Scholz im Mai schon gefordert, will sich die Außenministerin dafür einsetzen, dass die EU mehr Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit treffen kann, etwa im Steuerrecht oder in der Außenpolitik - auch auf das Risiko hin, dass Deutschland dann leichter überstimmt werden könnte. Kleineren Staaten sollen ihre Bedenken durch einen Mechanismus genommen werden, durch den sie weitere Verhandlungen fordern können, wenn sie fürchten, bei wichtigen Interessen überstimmt zu werden.

Eine Stimme der EU in der Außenpolitik

Allerdings ist auch klar, dass etwa Ungarn unter dem zunehmend autoritär auftretenden Premier Viktor Orbán seine Vetomacht nicht ohne Weiteres aufgeben wird, schon gar nicht, wenn die Sanktionsmechanismen für Rechtsstaatsverstöße geschärft werden. In Polen dürfte der wahrscheinliche Regierungswechsel die Dinge einfacher machen - aber auch ein Premier Donald Tusk muss in Warschau vertreten, was er in Brüssel aushandelt.

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In der Außenpolitik hat die EU gerade erst demonstriert, wie weit ihre Positionen manchmal auseinanderliegen: Frankreich, Spanien und Belgien stimmten in der UN-Generalversammlung für eine Gaza-Resolution, die von Israel eine Waffenruhe fordert. Kroatien, Österreich, Tschechien und Ungarn votierten dagegen. Deutschland, Italien und die meisten anderen EU-Staaten enthielten sich. Dann nahmen auch noch von der Leyen, Ratspräsident Charles Michel und der Außenbeauftragte Josep Borrell sich widersprechende Positionen ein.

Langfristig hält Baerbock deswegen klarere Zuständigkeiten für nötig, damit Europa in der Welt mit einer Stimme spricht - und von einer Person vertreten wird. Ob Baerbock selbst dann noch Außenministerin sein wird, ist offen. Die Reformen sollen ihrer Vorstellung nach im Zeitraum der nächsten Legislatur des Europaparlaments beschlossen und umgesetzt werden, das im Juni 2024 für fünf Jahre neu gewählt wird.

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