Dieser Gipfel finde in "in aufgewühlten Zeiten" statt, sagte Olaf Scholz, als er am Donnerstagnachmittag zum EU-Gipfel im Brüsseler Europagebäude eintraf. Der Bundeskanzler sprach von Bomben und Raketen - und erwähnte an erster Stelle nicht den Krieg in Nahost, sondern die russischen Geschosse, die die Ukraine heimsuchen. Scholz setzte damit, zumindest rhetorisch, zu Beginn der Beratungen einen anderen Schwerpunkt als die meisten Kolleginnen und Kollegen: die Ukraine zuerst. Das Land müsse weiter nach Kräften unterstützt werden, auch wenn sich die EU nun um einen zweiten Krieg kümmern muss.
Am Freitagnachmittag, nach ausführlichen Beratungen über beide Kriege, zeigte sich Scholz zufrieden mit dem Ergebnis. Er sprach davon, die EU habe eine "klare Haltung" zum Nahostkonflikt entwickelt. Das klang sehr gewagt, nachdem stundenlang über Details - "humanitäre Pausen" statt "humanitäre Pause" - gerungen worden war. Auch gebe der Gipfel ein klares Zeichen, dass die EU weiter fest an der Seite der Ukraine stehe, sagte Scholz. Tatsächlich sicherten die EU-Länder der Ukraine vor dem zweiten Kriegswinter anhaltende Waffen- und Munitionslieferungen zu. Allerdings wurde eine entscheidende Frage auch auf diesem Gipfel nicht geklärt: Woher sollen die Milliarden kommen, mit denen Europa der Ukraine helfen will?
Schon lange vor diesem Gipfeltreffen hatte sich abgezeichnet, wie schwierig die Diskussionen um den Haushalt würden, für den Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zusätzliche Mittel verlangt. Denn die Spendierfreudigkeit der Mitgliedstaaten ist nach drei Jahren Pandemie, nach der Energiekrise und angesichts der andauernden Hilfen für die Ukraine sehr begrenzt. Die meisten Mitgliedstaaten müssen sparen, schon beim informellen Treffen in Granada Anfang Oktober ließ sich deshalb erahnen: Vor Dezember, vor einem Gipfel der langen Nächte im Advent, wird das nicht gelöst.
Die bisherige Finanzierung für die Ukraine läuft Ende des Jahres aus
Die Zeit ist knapp. Bis Ende des Jahres muss die EU die weiteren Finanzhilfen für die Ukraine sicherstellen, für das vom Krieg gezeichnete Land, das ohne die finanzielle Unterstützung der EU längst pleite wäre. Die bisherige EU-Finanzierung läuft zum 31. Dezember ab. Im Juni hatte die Kommission ihren Plan für eine Fortsetzung präsentiert, als sie turnusgemäß einen überarbeiteten Haushalt vorlegte.
Der heißt eigentlich "Mehrjähriger Finanzrahmen", gilt immer für einen Zeitraum von sieben Jahren und im aktuellen Zyklus noch bis 2027. Für die restlichen Jahre schlägt die Kommission 50 Milliarden Euro zusätzlich für die Ukraine vor, davon 33 Milliarden als Kredite und 17 Milliarden in Form von Zuschüssen. Hinzu kommen knapp 50 weitere Milliarden für andere Zwecke. Jede Änderung müssen die Mitgliedstaaten einstimmig beschließen.
In Sachen Ukraine gibt es diesen Konsens schon fast. Widerstand kommt nur aus Ungarn, dessen Premier Viktor Orbán sich zumindest rhetorisch gegen jede weitere Ukraine-Hilfe stemmt, und aus der Slowakei, deren Ministerpräsident Robert Fico als alter Bekannter wieder neu beim Gipfel dabei ist und argwöhnisch betrachtet wird.
Viktor Orbán genoss in Brüssel sichtlich die Aufmerksamkeit, die ihm nach seinem Handschlag mit Wladimir Putin von vergangener Woche zuteil wurde. Ob er ein Verräter an der Sache der Ukraine ist, wie ihm vorgeworfen wurde? Er sei stolz auf den Handschlag, erwiderte Orbán, denn er verfolge eine "Friedensstrategie", der Rest der EU dagegen eine "Kriegsstrategie". Und diese sei gescheitert, deshalb sein Widerstand gegen die 50 Milliarden. Sein Verbündeter Robert Fico begründete seine Haltung mit Sorgen um die Korruption in der Ukraine.
Es wird allgemein damit gerechnet, dass Orbán und Fico spätestens beim nächsten Gipfel im Dezember ihren Widerstand gegen die Ukraine-Milliarden aufgeben. Olaf Scholz wollte sich zur Rolle von Orbán nicht äußern. Er zeigte sich nur zuversichtlich, dass man beim Gipfel im Dezember eine Lösung finden wird. Orbán spekuliert wohl darauf, dass die EU im Gegenzug Fördermittel freigibt, die wegen Rechtsstaatsverstößen in Ungarn seit Monaten gesperrt sind. Aber selbst wenn die Ukraine-Mittel genehmigt werden, ist unklar, woher der Rest des Geldes kommen soll, das die Kommission beansprucht.
Das Gezerre um den EU-Haushalt geht weiter
Die Bundesregierung hatte sich schon im Sommer skeptisch gezeigt ob der Vorschläge der Kommission. Die sehen 15 weitere Milliarden für die Herausforderungen der Migration vor, darunter auch neue Mittel für Flüchtlinge außerhalb der EU - das unterstützen noch viele. Eine neue Initiative, um die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu stärken, mit Subventionen für strategisch wichtige Industrien, soll 10 Milliarden Euro extra kosten und hat schon weniger Fans. Die unerwartet höheren Zinsausgaben für den Corona-Wiederaufbaufonds hat die Kommission auf knapp 20 Milliarden Euro veranschlagt, was auch nicht gerade auf Begeisterung stößt. Schließlich sollen auch die an die Inflation gekoppelten Gehälter der EU-Beschäftigten 1,9 Milliarden extra kosten, was fast alle ablehnen.
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Olaf Scholz zeigte sich in Brüssel unnachgiebig: Für den neuen Finanzbedarf sollten bestehende Mittel umverteilt werden, anstatt dass die Länder mehr Geld einzahlen. "Da stehen wir, obwohl die Zeit schon fortgeschritten ist, noch ganz am Anfang", sagte er mit Blick auf die Diskussion. "Meine Überzeugung ist, dass die Möglichkeiten einer Umpriorisierung von Ausgabenprogrammen aus dem europäischen Haushalt noch nicht ausgeschöpft sind." In der Vergangenheit hatte er bereits von mangelndem Ehrgeiz in der Kommission gesprochen, vorhandene Mittel umzuwidmen.
Mehrere Mitgliedstaaten haben zuletzt vorgerechnet, wo noch Geld zu holen sei im bestehenden Haushalt. Dänemark kam auf 16 Milliarden Euro, die noch nicht ausgegeben wurden und für andere Zwecke umgewidmet werden könnten. Französische Experten ermittelten eine ähnliche Summe. "Wir haben der Kommission von Anfang an gesagt: Wenn ihr die Ukraine-Hilfen mit den anderen Dingen in ein Paket packt, dann wird das schwierig", sagte ein EU-Diplomat. "Genau diese Situation haben wir jetzt." Ursula von der Leyen zeigte sich in der Nacht zu Freitag kompromissbereit: "Natürlich wird es einen Mix aus Umwidmungen und nationalen Haushaltsbeiträgen geben", sagte sie.
In Gesprächen am Rande des Gipfels war der Zeitdruck deutlich zu spüren. Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas etwa sagte, sie mache sich große Sorgen, weil man in Haushaltsfragen noch so weit auseinanderliege. "Wenn wir der Ukraine nicht helfen, was ist die Alternative?", fragte sie. "Was kommt dann: Russland gewinnt?"