Albaniens Premier Edi Rama witzelt noch über "ein bisschen unvermeidliche leichte Propaganda", mit dem er die Staats- und Regierungschefs zum Westbalkan-Gipfel in der Hauptstadt Tirana empfangen hat. Es war ein Video über die Geschichte des Landes, das in Erinnerung rufen sollte, welch weiten Weg es zurückgelegt hat von einer isolierten kommunistischen Diktatur zum EU-Beitrittskandidaten. Der Premier hat geladen in eine weiße Betonpyramide mit Treppen zur Spitze, die gleich neben seinem Amtssitz liegt. Einst als Mausoleum für den 1985 gestorbenen Diktator Enver Hoxha geplant, soll sie, gerade noch rechtzeitig zum Gipfel umgebaut, künftig als Innovationszentrum dienen.
Als erster unter den Westbalkanstaaten, zu denen überdies Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien zählen, richtet Albanien ein Gipfeltreffen aus im Format des Berliner Prozesses. Deutschland hatte ihn 2014 unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zusammen mit der EU-Kommission und anderen Mitgliedstaaten initiiert, um praktische, vor allem wirtschaftliche Kooperation unter den sechs Staaten zu fördern und sie zugleich näher an die EU heranzuführen. Seine Reise nach Tirana wertet Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) denn auch als Zeichen, dass der Prozess "Sinn macht und auch gute Fortschritte macht".
Die Bundesregierung will den Prozess zum Erfolg führen, auch deswegen hielt Scholz trotz des Krieges im Nahen Osten an der Gipfelteilnahme fest, zumal er in bilateralen Gesprächen etwa mögliche Fluchtrouten über den Balkan ansprechen wollte. In Berlin sieht man auch im Lichte des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine eine historische, möglicherweise einmalige Chance, die Region mit etwa 19 Millionen Menschen zu stabilisieren und an Europa zu binden - und damit Russlands Einfluss zurückzudrängen und auch Chinas Avancen. Das stärkste Argument dafür ist die wirtschaftliche Attraktivität des EU-Binnenmarktes.
Der Frust der Kandidatenländer
Vor 20 Jahren sei den sechs Ländern der Beitritt zur EU zugesagt worden, ruft der Kanzler in Erinnerung. Deswegen sei ganz, ganz klar, dass "es auch bald einmal so weit sein muss, dass das passiert". EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagt, der Gipfel sende "eine starke Botschaft, wie sehr man sich der Erweiterung verpflichtet" fühle. Albaniens Premier Rama beklagt hingegen, dass die Länder zwar viele Veränderungen in die Wege geleitet hätten, es beim EU-Beitritt aber nach dem Motto "alles oder nichts" gehe, Kandidatenländer also nicht schrittweise in den Genuss von Vorteilen einer Mitgliedschaft kommen.
Die Frustration teilen die anderen Staaten weitgehend. Allerdings gefährden Krisen zwischen Ländern der Region und innenpolitische Probleme gerade den gesamten Annäherungsprozess. Man werde die Bemühungen verstärken, dass "Kosovo und Serbien eine gemeinsame Perspektive" in der EU bekommen, sagt Scholz. Die jüngste Eskalation müsse man aber sehr ernst nehmen. Serbische Freischärler hatten im mehrheitlich von Serben bewohnten Norden Kosovos eine Polizeieinheit in einen Hinterhalt gelockt. Ein Polizist und drei Angreifer wurden getötet. Es war der schwerste Zwischenfall seit Ende des Krieges - so ernst, dass die von der Nato geführte Schutztruppe KFOR verstärkt und mit schwereren Waffen ausgerüstet wird.
Serbien und Kosovo sollen deeskalieren
Scholz fordert Belgrad und Pristina auf, zur Deeskalation beizutragen. Bei der Annäherung seien zuvor Fortschritte möglich gewesen zu einem Grundlagenvertrag, der beschreibt, "wie der Weg der Normalisierung stattfinden kann". Er zieht damit den Vergleich zu der gleichnamigen Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik und der DDR, die Beziehungen unterhalb einer gegenseitigen staatlichen Anerkennung vorsah. Erst am Ende des Prozesses, bei einem gemeinsamen EU-Beitritt, müsste Serbien Kosovo anerkennen, das es als abtrünnige Provinz betrachtet. Zu diesem Prozess müssten beide Seiten zurückkehren.
Serbiens Präsident Aleksandar Vučić hat das angekündigt. Anders als beim Außenministertreffen vor zehn Tagen steht Ministerpräsidentin Ana Brnabić neben Kosovos Flagge auf dem Familienfoto. Allerdings hat Vučić auch Neuwahlen angekündigt, die sich als Hindernis erweisen könnten. Dennoch heißt es in Berlin, Kosovos Premier Albin Kurti müsse sich jetzt bewegen - konkret die Schaffung eines serbischen Gemeindeverbands im Norden vorantreiben. Kurti jedoch forderte erneut Sanktionen gegen Serbien. In Bosnien blockiert Serbenführer Milorad Dodik Fortschritte, doch ohne die nötigen Reformen, das machen von der Leyen und Scholz gleichermaßen klar, kann das Land nicht den Status eines offiziellen Beitrittskandidaten erlangen.
Die EU lockt nun mit einem Wachstumspakt: Der Zugang zum Binnenmarkt soll in sieben Bereichen größer werden, sofern die Reformen vorangehen, erläutert von der Leyen. Zudem werde die EU mehr investieren - sechs Milliarden Euro insgesamt, davon vier Milliarden in Form von Krediten. Damit habe sich etwas Grundlegendes geändert im Verhältnis zwischen den Westbalkanstaaten und der EU, was wir uns vor wenigen Jahren noch nicht zu erträumen gewagt hätten, sagt Rama.
Die Volkswirtschaften der EU und der Balkanstaaten sind laut von der Leyen aber noch zu weit voneinander entfernt. Das soll sich durch sogenannte Mobilitätsabkommen ändern. Drei davon wurden bereits unterzeichnet und außer von Montenegro und Bosnien-Herzegowina auch ratifiziert. Sie sehen etwa Reisefreiheit mit dem Personalausweis vor, die Abschaffung von Roaminggebühren für Handys. Nun folgt ein weiteres über die gegenseitige Anerkennung von Schul- und Berufsabschlüssen. Diese Vereinbarungen, so lobt Scholz, würden den regionalen Zusammenhalt fördern und dazu beitragen, lange schwelende Konflikte zu lösen, indem sie Vertrauen stifteten.