SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 82:Der Krankheitsursprung ist psychisch

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In jüngster Zeit hat Pola Gülberg gleich zwei Patienten mit Magersucht versorgt - mehr als gewöhnlich, denn eigentlich kommen solche Fälle sehr selten vor. Ein Grund, um mit einem Vorurteil gegenüber Patienten mit diesem Krankheitsbild aufzuräumen.

Protokoll: Johanna Feckl, Ebersberg

Eigentlich versorgen wir auf unserer Intensiv selten anorektische Patienten, also solche mit Magersucht. In jüngster Zeit jedoch haben wir gleich zwei Fälle mit dieser Krankheit behandelt. Mein Eindruck ist, dass immer mehr Menschen daran erkranken - vielleicht auch durch den Einfluss diverser Challenges auf Social-Media, wo zum Beispiel die eigene Taille nicht breiter sein darf als die schmale Seite eines DIN A4-Blatts.

Anorexie beginnt häufig im Jugendalter, das hatten unsere beiden Fälle gemeinsam. Als sie zu uns kamen, waren beide im Unterzucker und brachten keine 30 Kilo mehr auf die Waage - ihr Zustand war lebensbedrohlich.

Die eine Patientin war in ihren 30ern und seit gut der Hälfte ihres Lebens magersüchtig. An ihrem ersten Tag wollten wir sie für eine Weile aufsetzen, da ist ihr der Kopf in den Nacken gefallen. Sie hat es nicht geschafft, ihn aus eigener Kraft wieder aufzurichten. Letztendlich ist die Frau gestorben - ihre Organe und Körperfunktionen waren schon zu sehr beschädigt von der Krankheit.

Mit nicht einmal 20 Jahren hatte ein anorektischer Patient Herzrhythmusstörungen

Der andere Patient war ein Mann, nicht mal 20 Jahre alt. Sein Weg in die Magersucht führte über Sport: Als seine Waage nach viel Muskeltraining drei Kilo mehr anzeigte und damit das Gegenteil von dem, was er wollte, ließ er immer mehr Lebensmittel weg und berechnete nach jeder Mahlzeit, wie viel Bewegung nötig ist, um die Kalorien wieder zu verbrauchen. Im Nu war er mitten in einer Essstörung und landete schließlich mit Herzrhythmusstörungen bei uns.

Einmal fragte ich den jungen Mann, ob er denn nicht gewusst habe, dass Muskeln mehr wögen als Fett und es deshalb ganz normal sei, an Körpergewicht zuzunehmen, wenn man viel Sport treibt. Eine Antwort blieb er mir schuldig.

Intensivfachpflegerin Pola Gülberg von der Ebersberger Kreisklinik. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Immer wieder erlebe ich es, dass Menschen dazu tendieren, über Betroffene wie unsere zwei Patienten vorwurfsvoll zu sprechen, also etwas sagen wie "selbst schuld, sollen sie halt einfach mehr essen". Solche Aussagen verkennen einen wichtigen Aspekt: Anorektische Personen leiden unter einer Wahrnehmungsstörung. Blicken sie in den Spiegel, sehen sie dort nicht das Bild, das andere von ihnen haben. Magersucht ist eine psychische Erkrankung, die aber physisch sichtbar ist.

Eigentlich sollten solche Patienten in Spezialkliniken versorgt werden, wo sie auch psychische Hilfe bekommen. Das können wir auf unserer Intensivstation nicht leisten, bei uns geht es um das Stabilisieren der Körperfunktionen. Aber: Spezialkliniken sind nicht nur voll und die Wartezeiten oft sehr lang, die Betroffenen müssen auch eine Therapiebereitschaft zeigen. Ein Teufelskreis, denn um therapiebereit zu sein, müssen sie ja erkennen, dass sie krank sind. Das ist ohne professionelle psychische Hilfe sehr schwer. Also verschlechtert sich der Zustand der Betroffenen weiter - so weit, bis sie irgendwann zu uns auf die Intensivstation kommen.

Es braucht viel mehr Aufklärungsarbeit und frühe Therapieangebote, auch für Angehörige. Denn Magersucht ist eine Erkrankung, die die gesamte Familie beschäftigt.

Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 38-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind unter sueddeutsche.de/thema/Auf Station zu finden.

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