Favoriten der Woche:Die Republik umgraben

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Arwed Messmers Bild "Berlin Mitte (Pariser Platz), 1995". (Foto: Arwed Messmer/Spector Books)

Aus seinen Fotografien der Wendejahre birgt Arwed Messmer die Trümmer von Ost und West: Diese und weitere Empfehlungen aus dem SZ-Feuilleton.

Von Harald Eggebrecht, Kathleen Hildebrand, Helmut Mauró, Peter Richter und Marie Schmidt

Arwed Messmers Wendezeit-Fotos

Das bemerkenswerteste Fotobuch des abgelaufenen Jahres zeigt auf dem ersten Bild den Fotografen selbst als Kind, aufgenommen vom Vater beim Besuch aus Baden-Württemberg in der DDR, der Loks der Deutschen Reichsbahn wegen. Die anderen zeigen das, was der spätere Gaststudent im Osten in den Wendejahren fotografierte. Arwed Messmer ist heute als Künstler vor allem für die Arbeit mit Bildarchiven bekannt. Unter dem Titel "Tiefenenttrümmerung" präsentiert er nun sein eigenes Fotoarchiv aus jener Zeit, die hier weniger von Auf- als von Abbruch geprägt zu sein scheint. Wieder eine editorische Großtat von Spector Books aus Leipzig, wo man mit dem Zeitzeugenblick von Westdeutschen im Osten 1990f. einen wirklichen Schatz gehoben hat. (Galt literarisch auch schon für "Das letzte Jahr - Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land" von Martin Gross.) Peter Richter

Noch eine Großtat des kleinen Verlags Spector Books: Arwed Messmers "Tiefenttrümmerung". (Foto: Spector Books)

Sinfonie von Michael Haydn

Kommen hier wieder zusammen: die Brüder Haydn. (Foto: Musikproduktion Dabringhaus und/MDG)

Musikalisch ist das alte Jahr noch nicht ganz vergangen, da gibt es einiges nachzutragen. Zum Beispiel eine Sinfonie von Michael Haydn. Bis heute ist er in der öffentlichen Wahrnehmung bestenfalls der kleine Bruder von Joseph Haydn. Dabei hat Michael Haydn ein eigenständiges umfangreiches Œuvre vorzuweisen. Neben den Salzburger Kirchenmusiken, darunter das Deutsche Hochamt und das Schrattenbach-Requiem, sind es immerhin 41 Sinfonien, dazu Kammermusik und Solokonzerte, darunter ein Hornkonzert, mit dem er 1762 in Wien Furore machte. Mit Wolfgang Amadé Mozart verbindet ihn nicht nur die Anzahl der komponierten Sinfonien, sondern auch eine persönliche Freundschaft. Vom Vater Leopold Mozart misstrauisch beäugt, hielt die enge kollegiale Verbindung des 20 Jahre älteren Michael Haydn und des jungen Mozart. Als Künstler stand Michael Haydn aber im Schatten von Mozart, der durch seine Karriere in Wien Weltruhm erlangte, und in dem seines älteren Bruders Joseph am Hof des Fürsten Esterházy. Der bot Michael Haydn eine Stelle als Vizehofkapellmeister an, die er jedoch ablehnte. Die "Österreichisch-Ungarische Haydn Philharmonie" unter Leitung von Enrico Onofri hat nun beide Brüder musikalisch vereint, mit der Sinfonie Nr. 39 sowie der Introduzione zum Oratorium "Der büßende Sünder" von Michael und der Sinfonie Nr. 96 mit dem Präludium zu "Philemon und Baucis" von Joseph Haydn. Man muss nicht behaupten, dass die Werke von Michael und Joseph gleichrangig wären. Das sind sie nicht, dafür hat Joseph zu viel Routine und Experimentiererfahrung, vielleicht auch mehr mentale Freiheit im klanglichen Denken. Andererseits zeigt auch Michael Haydn hohe symphonische Qualitäten, die noch heute, mehr als 200 Jahre später, beeindrucken. Auch wenn der typische musikalische Tonfall Michael Haydns, der persönlicher, humaner ist als der imperiale Gestus der Wiener Klassik, hier kaum durchschlägt, erkennt man die gelenkige Handschrift des Komponisten. Helmut Mauró

Bilderbuch: Eine Million Punkte

Gute Ideen können sich ja auch exponentiell verbreiten, gibt der Autor Sven Völker zu bedenken. (Foto: Helvetiq Verlag/Helvetiq Verlag)

Ein Baum, zwei Bäume, vier Äpfel. Das Bilderbuch "Eine Million Punkte" (Helvetiq Verlag) beginnt ganz einfach wie für kleine Kinder. Aber hui, wie schnell es gewaltig wird: Schon von der Zahl 32 an muss man die Kreise mit dem Finger nachzählen, von 64 an: nur noch Konfetti. Immer kleiner werden die Punkte, während die Zahlen sich weiter verdoppeln. Bis sie am Schluss, auf einer einen Meter langen Ausklappseite, bloß noch winzige Pixel sind. Aber der Clou ist, dass sie wirklich da sind, jeder einzeln gedruckt. Der Berliner Künstler Sven Völker will das Prinzip des exponentiellen Wachstums anschaulich machen, auf dem viele der großen Probleme unserer Zeit basieren - der Klimawandel oder die Corona-Pandemie. Er sehe, sagt er, in der Idee auch die Lösung: Gute Ideen können sich ja auch exponentiell verbreiten. Tröstlich, am Anfang dieser 365 neuen Tage. Kathleen Hildebrand

Lyrik: Michael Krüger und Christina von Bitter

Die Bildhauerin und Malerin Christina von Bitter illustriert die Dichtung von Michael Krüger. (Foto: Verlag Kleinheinrich)

Dass Gedichte seltsamerweise bei vielen, die sonst der Literatur durchaus gewogen sind, Scheu hervorrufen, was oft mit Unverständigkeit, ja, Unzuständigkeit begründet wird, als ob zur Lektüre von Lyrik eine spezielle Ausbildung nötig sei, ist befremdlich. Tatsächlich mögen manche Äußerungen bekannter Lyriker, wie selten im Dichterleben ein gutes Gedicht gelänge, zu dieser Ansicht beigetragen haben, man brauche eine Art Geheimschlüssel, um das Tor zum rätselvollen Garten der Lyrik öffnen zu können. Michael Krüger hat als Autor und Verleger zeitlebens gegen dieses Zögern angekämpft. Auch mit dem Argument, Gedichte zu lesen brauche viel weniger Zeit, und in ihnen konzentriere sich die Aussagekraft eines Schriftstellers viel unmittelbarer als in Romanen. Das gilt für seine eigene lyrische Produktion sofort. Und so wandert er im prächtigen Band "flussaufwärts" (Kleinheinrich Verlag, Münster 2023. 116 Seiten, 40 Euro) am Starnberger See, schaut in das sich ständig wandelnde Wetter, sieht Spiegelwelten in den Wolken. Er besucht seinen Nachbarn, den Esel Nepomuk und beobachtet dessen Treiben, als kommentiere das Tier dieses oder jenes Geschehen. Oder Krüger sendet Gedichtgrüße an Freunde und reagiert lyrisch auf Telefonanrufe. Die sechzig Gedichte sind in den Corona-Jahren 2021 und 2022 entstanden und künden von Abgeschiedenheit, Selbstbeobachtung und zum Glück mitteilsamer Nachdenklichkeit. Auch die Bilder von Christina von Bitter sind in Corona-Zeiten 2020 bis 2021 entstanden, luftige, hergewehte Ansichten, Farbeindrücke, Linien und Zeichen, die wunderbar auf Krügers lyrische Äußerungen antworten. So entsteht ein intimes Gespräch zwischen den beiden über die Kunstgrenzen hinweg, ohne dass der eine oder die andere sich unmittelbar auf Gemaltes oder Gedichtetes beziehen. So lässt sich in diesen im Querformat angeordneten Texten und Bildern unbeschwert und mit wachsender Lust hin und her wandern zwischen Lesen und Betrachten, zwischen Bildentdeckungen und Lyriküberraschungen und wird dabei gleichsam der Dritte im Bunde: "Auch die Stille hat heute ein schönes Gesicht." Harald Eggebrecht

Podcast: Was alle lesen

Wenn Bücher töten könnten, heißt dieser Podcast. Soweit muss es ja nicht kommen. (Foto: IBCK)

Was auf Englisch "debunking" heißt, das Entlarven populärer Irrtümer, ist eine Sprechhaltung, die man nicht mögen muss. Durch den höhnischen Ton, der zum Genre gehört, dringt im Podcast "If books could kill" aber schnell der Wille von Michael Hobbes und Peter Shamshiri durch, genau und konzentriert zu lesen. Und zwar populäre Bestseller, sie nennen es "airport books". Titel, die man im Vorbeigehen von Stapeln nimmt, um sich auf einem Flug schnell reinzuziehen, was alle gerade denken über Politik, Liebe, das Ende der Menschheit. Kann man sich hiermit sparen, weil Hobbes und Shamshiri detailliert und damit auch fair den Argumentationsgang der Bücher nachkonstruieren, bevor sie ihre Einwände und konträre Fakten nennen. Mehr als vierzig Bücher haben sie so im Laufe des Jahres, seit der Podcast läuft, schon gelesen: damit wir es nicht müssen. Marie Schmidt

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