Kolumne "Neue Heimat":"Can I write for you guys?"

Lesezeit: 6 min

Von 2016 bis 2019 lautete der Titel der SZ-Kolumne "Neue Heimat", seither "Typisch deutsch". Jahrelanger Kern des Teams: Olaleye Akintola, Mohamad Alkhalaf und Lillian Ikulumet, hier vor dem SZ-Hochhaus im Münchner Stadtteil Berg am Laim. (Foto: Robert Haas)

Vor gut sechs Jahren gründete die SZ ein Kolumnen-Team aus geflüchteten Journalisten. Was hat das Projekt bei den Lesern bewirkt - und was bei den Autoren?

Von Korbinian Eisenberger, München

Ein Journalist berichtet, wie er im Wiesnzelt sitzt und sein Hendl verspeist: bis zum letzten Knochen. Er beschreibt die irritierten Blicke der Zeltbesucher, während die Knochen zwischen seinen Zähnen knacken. Die SZ-Leser lasen das - und grübelten über sich selbst: Besteht da eventuell Erstickungsgefahr? Warum macht einer das? Und warum werfen wir wiederum so viele Teile eines geschlachteten Tieres in den Müll?

Darum geht es, um diesen Perspektivwechsel. Egal ob man in München wohnt, in Lagos oder in Kabul: Es geht um Fragen, die einem der Alltag entgegenschleudert. Im Frühjahr 2016 lebten nach weltweiten Fluchtbewegungen plötzlich sehr viele Neuankömmlinge in Deutschland. Menschen, die mit vielen für sie sehr komplizierten Fragen konfrontiert waren: Wie kaufe ich mir ein U-Bahn-Ticket, das noch dazu gültig ist ( in München ist das auch für Einheimische eine Herausforderung)? Warum sollte ich mich im Fitnessstudio anmelden? Warum lieber nicht? Wieso tragen Menschen ihre Hunde in der Handtasche? Warum verzehren sie diese Hunde nicht?

Um solchen Fragen nicht ohne Ironie auf den Grund zu gehen, beschäftigt die Süddeutsche Zeitung seit etwas mehr als sechs Jahren ein Kolumnen-Team geflüchteter Journalisten. Bis heute erscheint jeden Freitag oder Samstag ein Text auf der Leute-Seite der SZ. Ein Leitmotiv ist gleich geblieben: der Humor der Autoren, der in fast allen Episoden aufblitzt. Andere Elemente des Projekts haben sich über die Jahre verändert.

Olaleye Akintola war damals seit einem halben Jahr in Bayern. Es war ein Tag im April 2016, da begab er sich samt Arbeitsproben ins Büro der Ebersberger SZ, eine der Landkreis-Redaktionen der Süddeutschen Zeitung. Er stellte sich dort als nigerianischer Journalist vor, legte eine Mappe mit seinen Zeitungsartikeln auf den Tisch und erzählte von seiner Flucht. Über seine gut trainierten Zähne sagte er da erst einmal noch nichts. Stattdessen stellte er diese eine - damals durchaus überraschende - Frage: "Can I write for you guys?"

Olaleye Akintola bei einem Recherchetermin im Jahr 2017. (Foto: Stephan Rumpf)

Es brauchte einige Tage, um zu verstehen, dass in dieser kleinen Frage große ethnologische Antworten stecken könnten. Antworten auf so manches, was damals vor sechseinhalb Jahren, aber auch noch 2022, für nicht wenige neu und unnahbar erscheinen mag. Wer sind diese Geflüchteten? Woher kommen sie? Wie ticken sie? Was wollen sie? Und wie sehen sie die Einheimischen?

2022 ist wieder ein Jahr der Flucht. Es ist anders als 2015 und 2016. Die Menschen aus der Ukraine, ihre Fluchtgründe, ihre Not, ihre Kultur - das alles ist den Deutschen näher, aus nachvollziehbaren Gründen. Damals war das anders.

Die SZ engagierte von Juli 2016 an Olaleye Akintola aus Nigeria. Bald kamen Lillian Ikulumet aus Uganda und Mohamad Alkhalaf aus Syrien dazu und bildeten fortan den Kern des Teams. Alle drei konnten dramatische Fluchtgeschichten belegen. Alle drei mussten wegen ihrer Reportertätigkeit flüchten. Alkhalaf wurde im Gefängnis gefoltert, seine Kollegin war ermordet worden. Akintola hatte, wenn man so will, Glück, weil er beim Einbruch in seine Wohnung nicht zu Hause war. Sein Recherchematerial: gestohlen. Kurz darauf hat er Nigeria verlassen. Lillian Ikulumet wurden ihre Berichte über Homosexuelle in Uganda zum Verhängnis. Bis heute spricht sie nicht im Detail darüber, wie sie misshandelt wurde. Nur, dass die Narbe vom Auge bis unter ihre Kehle etwas damit zu tun hat.

In Deutschland war vieles so neu, so anders. Schnell wurde deutlich: Wer als Reporter aus seinem Heimatland flüchten muss und sich plötzlich in einem anderen Land, ja teils in einer anderen Welt wiederfindet, den zerreißt es fast vor Fragen. Und wenn es nur um irritierte Blicke beim Verspeisen eines Hendlknochens geht.

Mit Beginn der großen Fluchtbewegungen 2015 war oft über Flüchtlinge berichtet worden. Fast nie von ihnen selbst. Diejenigen, um die es hauptsächlich ging, kamen selbst kaum zu Wort, wurden selten zitiert. Die Kolumne "Neue Heimat" ging einen anderen Weg. Ziel war es, eine Verbindung zu schaffen, zwischen den Einheimischen und den Zugewanderten. Wir, die SZ, wussten nicht, ob das funktioniert. Es war ein Versuch.

Start von "Neue Heimat" am 1. Juli 2016 mit damals vier Kolumnisten: Olaleye Akintola, Mohamad Alkhalaf, Lillian Ikulumet und ein afghanischer Autor, der aus Sicherheitsgründen unter Pseudonym schrieb. (Foto: Florian Peljak)

Die Autoren berichteten fortan über ihre Beobachtungen in Oberbayern, über ihren neuen Alltag, oft über scheinbar Triviales: Biergarten-Besuche, Sauna-Gänge, S-Bahn-Erlebnisse. Lillian Ikulumet schilderte etwa, wie sie von einer Passagierin beim Stillen ihres Babys angeschnauzt wurde. "Nach dem ersten Schreck habe ich die Frau gefragt, ob sie immer vorher aus dem Bus aussteigt, wenn sie in eine Breze beißen will", so Ikulumet. Ihre Tochter Taliah habe "nur für einige Sekunde pausiert und die Augenlider gehoben. Um zu sehen, wer sie beim Trinken unterbricht - dann saugte sie genüsslich weiter."

Ihr Ziel haben die Autoren mit ihren Texten fast immer erreicht. Indikator sind die Leserbriefe und die Reaktionen im Internet. Nasrullah Noori, etwa ein Jahr lang Teil des Teams, hatte Überlegungen zu den Nackerten im Englischen Garten angestellt. Menschen, die - wie er schrieb - in Afghanistan hinter Gitter landen würden. Das führte zu kontroversen Debatten. Den einen gefiel seine kritische Auseinandersetzung, anderen nicht. Oder Mohamad Alkhalaf, der die Herzen der Leser ganz auf seiner Seite hatte, als er kurz vor Weihnachten erläuterte, wie ein bayerischer Bub seinen eigenen üppig beschriebenen Wunschzettel zerriss und nur noch einen Satz drauf schrieb: "Liebes Christkind, ich wünsche mir, dass der Krieg in Aleppo zu Ende geht."

Der Perspektivwechsel kann erfreuen, erhellen, erzürnen. Die SZ-Leser reagieren bis heute überrascht, oft erheitert, manchmal - wenn sie die Ironie nicht erkennen wollen - auch erbost. 2017 fühlten sich die Münchner Yoga-Fans leicht missverstanden, als Lillian Ikulumet nach drei Wochen Yoga-Training im Text "Die Hölle auf Matten" kundtat, dass sie sich fühle wie nach einem "Voodoo-Ritual, bei dem man selbst die Puppe ist". Große Aufregung gab es ob der Ausführungen Olaleye Akintolas zu einer Gepflogenheit in Südwest-Nigeria, Hunde beim Festmahl zu verspeisen. "Am besten schmecken sie mir geröstet vom Grill", schrieb er. Kälber, Lämmer, Ferkel, die dürfen auf den Rost, aber doch keine Hunde - diese Sichtweise gaben uns einige Leser deutlich zu verstehen. Aber auch das gehört eben zum Journalismus: Man muss anecken dürfen.

Einer der insgesamt fünf Autoren hörte schnell wieder auf. Der Grund: Trotz Pseudonym fürchtete er um das Leben seiner Familie, die er in Afghanistan unter dramatischen Bedingungen verlassen hatte. An dieser Stelle stieß das Team an die Grenzen der Pressefreiheit.

Der Kern: ein Trio. Und irgendwann machte sich bei Akintola, Alkhalaf und Ikulumet ein Gefühl breit. Den dreien ging es ähnlich: Die "Neue Heimat" war für sie irgendwann nicht mehr "neu". Nach drei Jahren stand zur Debatte, die Kolumne nach damals etwa 170 erschienen Texten einzustellen. Stattdessen erwuchs eine Idee: ein neues Konzept - und ein neuer Name.

Olaleye Akintola, Lillian Ikulumet und Mohamad Alkhalaf 2019 auf dem Oktoberfest. (Foto: Florian Peljak)

Unter dem Titel "Typisch deutsch" ging es fortan um die nun zentrale Grundfrage des Trios: Wie verändert einen dieses Land mit der Zeit? Im Mittelpunkt steht seither, welche Eigenheiten der Einheimischen die Autoren angenommen haben - und bei welchen Gepflogenheiten sie sich schwer tun - und warum.

Bis heute ist das ihr Thema, in inzwischen insgesamt rund 400 Texten. Mohamad Alkhalaf polarisierte zum Bundesligastart im August 2022 redaktionsintern und bei Lesern mit seiner Kolumne "Ein roter Löwe". Er behauptete darin ernsthaft, dass es möglich sei, sowohl Fan vom FC Bayern als auch vom TSV 1860 München zu sein. Lillian Ikulumet, inzwischen Mama, verfasste kürzlich eine Liebeserklärung an ihre Waschmaschine, die plötzlich streikte. Und Olaleye Akintola versöhnte sich in einer Folgegeschichte zu seiner einst shitstormverdächtigen Hunderöst-Kolumne mit Münchens Haustierhaltern. Er übe sich diesbezüglich in kulinarischem Verzicht, so Akintola, wie er schrieb: erfolgreich.

Vielleicht auch wegen dieser Entwicklung der Autoren, ihres Lebens und ihrer Texte, hat sich die Kolumne herumgesprochen. Mehrere in- und ausländische Medien berichteten in den vergangenen Jahren über das Projekt, zuletzt brachte Deutschlandradio ein Feature. "Flüchtlingskolumnen gab es zwischenzeitlich auch in anderen Zeitungen, aber keine behauptete sich so lange und erfolgreich, wie die SZ-Kolumne", heißt es im Radiobeitrag vom August 2022. Ein Erfolg des Projekts: der Pressefreiheits-Sonderpreis des Bayerischen Journalistenverbands 2018.

Mohamad Alkhalaf mit dem Ebersberger Landrat Robert Niedergesäß. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Der Löwen- und Bayern-Fan Mohamad Alkhalaf lebt seit sechs Jahren in Kirchseeon, hat geheiratet und arbeitet als Mittagsbetreuer für Schulkinder. Neben seiner Kolumnisten-Tätigkeit für die SZ schreibt der 38-Jährige als freier Reporter für den Lokalteil der SZ Ebersberg, wo das Projekt einst entstand.

Lillian Ikulumet und ihre Tochter Taliah. (Foto: Robert Haas)

Lillian Ikulumet, 41, ist Vollzeit bei der Caritas angestellt - und zieht ihre Tochter Taliah groß, wie die Lektüre ihrer Texte regelmäßig verrät. Irgendwann, sagt sie, möchte sie wieder mehr schreiben. Olaleye Akintola, der Mann, mit dem es begann, hat seine bis dato letzte Kolumne Anfang 2022 verfasst. Der 39-Jährige studiert inzwischen in Erfurt auf Master - und geht auf eigenen Wunsch neue Wege.

2017 in Wildenberg im Kreis Kelheim: Für ein politisches Porträt trifft Olaleye Akintola den damaligen Fraktionsvorsitzenden der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament Manfred Weber von der CSU. (Foto: Stephan Rumpf)

Gleichwohl wäre das alles ohne Olaleye Akintolas Initiative wohl nie entstanden. Er hat für die SZ überregional über Politiker berichtet, CSU-Mann Manfred Weber war das prominenteste Beispiel, ihn traf Akintola in dessen Wahlkreisbüro. Akintola hat Weber und vielen anderen auf den Zahn gefühlt - und vor allem sich selbst, nicht nur beim Hendlverzehr. Akintola sagte einmal, wie besonders es für ihn sei, nun da er nicht mehr verfolgt werde, endlich ein freier Journalist zu sein. Wer in einem Land mit Pressefreiheit aufgewachsen ist, kann sich das nur schwer vorstellen. So machen die drei ihren Kollegen und Lesern seit sechs Jahren auch immer wieder bewusst, was Freiheit bedeutet: Gedanken über Politiker, Yogastudios, Hendlknochen und Hunde-BBQs teilen zu dürfen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: