Innere Sicherheit:Innenminister Herrmann warnt vor wachsendem Antisemitismus

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Antisemitismus war jahrelang ein vor allem auf den Rechtsextremismus konzentriertes Problem. Der Nahostkonflikt wirke nun wie ein Brandbeschleuniger, über die Szenen hinweg. (Foto: Christian Ohde/Imago)

Islamisten, Rechts- und Linksextremisten: Bayerns Verfassungsschützer warnen vor wachsenden Gefahren für die Demokratie. Auch der Gaza-Krieg trägt demnach zum Extremismus bei.

Von Johann Osel

Bayerns Verfassungsschutz und Innenminister Joachim Herrmann warnen vor einem Erstarken des Antisemitismus im Land. "In nahezu allen extremistischen Szenen erleben wir Scharfmacher, die aus ganz unterschiedlicher Motivation gegen Israel hetzen", sagte der CSU-Politiker am Montag bei der Vorstellung des neuen Verfassungsschutzberichts. Es habe Jahre gegeben, in denen sich die Sicherheitsbehörden bei Antisemitismus weitgehend nur mit Rechtsextremismus beschäftigt haben. Der Nahostkonflikt wirke nun wie ein Brandbeschleuniger, über die Szenen hinweg. Der Hass auf Israel und jüdische Mitmenschen sei oft der kleinste gemeinsame Nenner, er vereine ideologische Akteure aus unterschiedlichen, sogar verfeindeten Spektren. "Sie nehmen an pro-palästinensischen Versammlungen teil, nutzen die sozialen Medien, um Hass, Propaganda oder Fake News zu verbreiten und infiltrieren auch unsere Universitäten." Das sei gerade angesichts der historischen Verantwortung Deutschlands "unerträglich".

Erkennbar ist dies laut Herrmann zum Beispiel bei islamistischen Gruppierungen. Deren Ziel sei es auch, "unsere pluralistische Gesellschaft zu spalten und insbesondere die muslimische Community davon zu entfremden". Die jüngsten weltpolitischen Entwicklungen hätten die Sichtbarkeit dieser Szene erhöht, das berge "ein hohes Potenzial emotionaler Radikalisierung". Da anders als im Syrien-Konflikt in den 2010er-Jahren kaum eine Ausreisemöglichkeit für Islamisten in den Gazastreifen gegeben ist, bestehe zudem "die Gefahr, dass diese in Deutschland Übergriffe auf israelische oder jüdische Repräsentanzen und Menschen planen".

Unter Linksextremisten werden entsprechende Positionen bis hin zur Verharmlosung oder gar Leugnung der Hamas-Massaker vertreten. "Offenkundig setzt sich ein Großteil der Szene nur dann für Menschenrechte ein, wenn dies dem eigenen ideologischen Weltbild dient", so Herrmann. "Besorgniserregend" seien auch Beeinflussungsversuche an deutschen Universitäten, mit denen durch aggressive Anfeindungen pro-israelische Meinungen unterdrückt werden sollen. So haben sich nach Auskunft von Verfassungsschutzchef Burkhard Körner auch an manchen bayerischen Hochschulen "Komitees" auf Initiative von Studenten gebildet - auf Veranstaltungen würden dann die Gräueltaten der Hamas als legitime Verteidigung dargestellt. Selbst auf Demonstrationen, auf denen die meisten Besucher ihre Sorge vor einer Eskalation in Nahost friedlich zum Ausdruck bringen, würden Stimmen laut, die das Existenzrecht Israels verneinen.

Auch Akteure im auslandsbezogenen Extremismus sind mit Antisemitismus aktiv, stellt der Verfassungsschutz fest, etwa palästinensische Extremisten oder türkische Links- und Rechtsextremisten. Im Rechtsextremismus gibt es expliziten Antisemitismus laut Bericht in der klassischen Szene. In der "Neuen Rechten", die Überschneidungen mit der AfD aufweist, geht es demnach eher um Verschwörungserzählungen; zum Beispiel bei Propaganda über jüdische Eliten im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie oder einem angeblich geplanten Systemkollaps, dem "Great Reset".

Der Versuch von Extremisten aller Bereiche, über bürgerliche Proteste oder gesellschaftliche Aufreger-Themen Fuß zu fassen, ist ein Gesamttrend. Akteure jeglicher Couleur hätten "ihre Bemühungen verstärkt, die Gesellschaft zu spalten und den politischen Diskurs mit ihren Positionen zu unterwandern", sagte Herrmann. Eben bei Demonstrationen der bürgerlichen Mitte, gleich ob zum Klimawandel, zur Zukunft der Landwirtschaft oder eben zum Nahostkonflikt, "mischen sie sich als Trittbrettfahrer unter die Menschen, um ihre eigene extremistische Agenda voranzubringen". Dies sei ein "zynisches Spiel", jede neue Krise werde ausgenutzt.

In der AfD spielten gemäßigtere Kräfte kaum mehr eine Rolle

Das rechtsextremistische Personenpotenzial ist 2023 angestiegen, auf 2725. Das ist hauptsächlich Folge eines Mitgliederzuwachses der Jungen Alternative. Der AfD-Nachwuchs wird offiziell als rechtsextrem geführt, der völkische "Flügel" der Partei nicht mehr, da er formal aufgelöst ist. Der Vorstand der Bayern-AfD und die Landtagsfraktion werden indes von dieser Strömung dominiert. Der AfD-Landesverband steht seit 2022 unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. Diese soll aufklären, inwiefern die Partei "Bestrebungen verfolgt, die den Kernbestand des Grundgesetzes zu beeinträchtigen oder zu beseitigen versuchen". Die Beobachtung erstreckt sich aber nicht auf alle Funktionäre oder Mitglieder, sondern prüft vor allem den Einfluss von Extremisten.

Der Innenminister sagte am Montag, dass sich innerhalb der AfD in Bayern verfassungsfeindliche Tendenzen ausbreiten; gemäßigtere Kräfte spielten kaum mehr eine Rolle. Auch habe die Vernetzung der Partei in das extremistische "Vorfeld" qualitativ und quantitativ zugenommen. Damit gemeint sind etwa vermehrt sichtbare Kontakte zur sogenannten Identitären Bewegung (IB). Aufsehen erregte zuletzt ein Geheimtreffen mit Vertretern von AfD und IB im schwäbischen Dasing zum Thema "Remigration"; auch zwei Landtagsabgeordnete nahmen daran teil. Die IB, betonte Herrmann, verstehe unter "Remigration" nicht nur die Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer, sondern auch von deutschen Staatsbürgern mit Migrationshintergrund. Diese Degradierung von Menschen zu "Bürgern zweiter Klasse" sei mit dem Grundgesetz unvereinbar.

Weitere Erkenntnisse des neuen Berichts: Mehr Zulauf hatte 2023 die Szene der "Reichsbürger", 5406 Personen werden dem Spektrum zugerechnet, ein Höchststand. Der Freistaat versucht, Anhänger der heterogenen Bewegung zu identifizieren und zu entwaffnen. Allein 2023 sei gegen 29 mutmaßliche Reichsbürger ein Widerruf der Waffenerlaubnis eingeleitet worden. Im Linksextremismus bereitet dem Verfassungsschutz die Zunahme von Gewaltdelikten Sorge, so habe man vergangenes Jahr 21 Brand- und Sprengstoffdelikte der Szene zugeschrieben, in elf Fällen Angriffe auf Infrastruktur. Im Islamismus steht der afghanische IS-Ableger "Islamischer Staat - Provinz Khorasan" (ISPK) besonders im Fokus. Propaganda-Organe von ISPK rufen laut Herrmann verstärkt zu Anschlägen in Europa auf, etwa bei Großereignissen. "Wir sind daher auch mit Blick auf die bevorstehende Fußball-Europameisterschaft sehr wachsam."

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