Auch nach mehr als zehn Jahren Wirtschaftsboom in Deutschland ist es nicht gelungen, die Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern. So bleibt die Ungleichheit hoch, während das Land durch die Corona-Pandemie in den vielleicht schwersten Konjunkturabsturz seit dem Zweiten Weltkrieg rutscht. Das geht aus einer Untersuchung des Berliner DIW-Instituts hervor, die der SZ vorliegt. Hoffnung gibt allerdings, dass sich beim letzten Absturz - durch die Finanzkrise 2008 - langfristig negative Effekte auf Beschäftigung und Konsum vermeiden ließen.
Nach der Jahrtausendwende erlebte Deutschland einen sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit - und damit auch der Unterschiede zwischen Arm und Reich. Der Gini-Koeffizient, ein Maß für die Unterschiede, nahm deutlich zu. Dieser Schub in der Ungleichheit ist bis heute nicht korrigiert, obwohl inzwischen fünf Millionen Menschen mehr Arbeit haben als vor 20 Jahren - und die Wirtschaft zuletzt eine Dekade lang ungebremst wuchs.
Die Erfahrungen aus der Finanzkrise machen Hoffnung für die aktuelle Situation
Positiv sei zu vermerken, dass in den vergangenen Jahren die Einkommen in allen Schichten zunahmen, sagt Studienautor Markus Grabka: "Die Realeinkommen steigen in der Breite." Über die ganze Spanne seit der Jahrtausendwende bis 2017, wofür die aktuellsten Zahlen vorliegen, fallen aber Unterschiede auf. So hatten die bestverdienenden zehn Prozent der Haushalte nach Inflation 22 Prozent mehr verfügbares Einkommen als 2000. In der Mitte der Gesellschaft fiel das Plus nur halb so hoch aus. Und die zehn Prozent der Wenigstverdiener profitierten erst, als 2015 ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wurde.
Die Frage ist, ob nun die Corona-Pandemie die soziale Kluft verändert. Der Vergleich mit der Finanzkrise gibt da Anlass zur Zuversicht. Damals gelang es mit staatlichen Maßnahmen, größere Arbeitslosigkeit und Ungleichheit zu verhindern. "Staatliche Unterstützungsleistungen wie das Kurzarbeitergeld haben damals die Auswirkungen abfedern können und werden auch in der jetzigen Krise eingesetzt", sagt Grabka. "Ich bin optimistisch, dass die aktuell beschlossenen Maßnahmen wieder die schlimmsten Auswüchse der Krise abfedern können". Grabka und Co-Autor Jan Goebel merken aber an, dass die Konsequenzen der Corona-Krise davon abhängen, wie lange das öffentliche Leben und die Unternehmen eingeschränkt sind. Kommt es zu Massenentlassungen, verlieren viele Menschen dauerhaft Einkommen und die sozialen Unterschiede wachsen.
In den vergangenen Jahren war es vor allem der starke Arbeitsmarkt, der die Einkommen aller Schichten anhob. Die Daten belegen, dass die rot-grünen Arbeitsmarktreformen der Nullerjahre nicht in erster Linie zu prekären Billigjobs führten, wie manche behaupten. Betrachtet man nur die Altersgruppe von 15 bis 64 Jahren, entstanden zwar zusätzlich 1,5 Millionen atypische Jobs, also etwa Teilzeitstellen. Gleichzeitig nahm aber die Zahl der normalen Arbeitsplätze um 2,3 Millionen zu.
Der DIW-Verteilungsbericht liefert keine Anhaltspunkte dafür, dass die zuletzt starke Zuwanderung bereits hier lebende Wenigverdiener wirtschaftlich belastet. Die ausländische Bevölkerung in Deutschland vergrößerte sich zwischen 2010 und 2017 um vier auf zehneinhalb Millionen. In der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund hat sich der Anteil jener mit niedrigen Einkommen dadurch nicht erhöht. Als niedriges Netto-Einkommen gilt für einen Single bis zu knapp 1200 Euro im Monat.
Gestiegen ist der Anteil der Niedrigeinkommen bei Migranten, was Goebel angesichts der starken Zuwanderung nicht überrascht: "Insbesondere aufgrund von Sprachbarrieren und administrativen Hürden wie Arbeitserlaubnis oder der Anerkennung von Zeugnissen braucht es Zeit, bis die neuen Zuwanderer auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen." Inzwischen zeigten sich erste Erfolge. "Dennoch bedarf es angesichts der hohen Niedrigeinkommens-Quote weiterhin Anstrengungen wie Qualifizierung und Sprachtraining, um die Integration in den Arbeitsmarkt weiter voranzubringen."