Für einige der erlauchten Gäste im Saal dürfte es eine unwirkliche Situation gewesen sein: Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), hielt am Freitagabend beim weltweit wichtigsten Notenbankertreffen im amerikanischen Jackson Hole eine Rede - und verlor kein Wort über das Thema, das alle Welt bestimmt am meisten interessiert hätte: Wann strafft die EZB ihre Geldpolitik?
Draghi sprach stattdessen über die Gefahren des globalen Protektionismus und warnte vor einer Lockerung der internationalen Finanzregulierung. Wahrscheinlich wäre er nach dem Auftritt am liebsten zurück auf seinen Stuhl gegangen. Doch wie so häufig bei diesen Konferenzen gab es im Anschluss eine Diskussion mit Fragerunde, bei der es kein Entrinnen gab: Wie und wann mit dem Ausstieg aus der lockeren EZB-Geldpolitik zu rechnen sei.
Draghis Antwort in aller Kürze: nicht so schnell. In den Worten des EZB-Präsidenten klang es so: "Wir haben bislang noch keine selbsttragende Annäherung der Inflation an das mittelfristige Ziel gesehen." Daher sei ein erhebliches Ausmaß an geldpolitischer Unterstützung immer noch gerechtfertigt.
Einfach weitermachen mit dem billigen Geld?
Das war inhaltlich nicht neu, das Gleiche sagte Draghi nach der letzten EZB-Ratssitzung im Juli. Daraus darf man schließen, dass die geldpolitische Wende nur sehr langsam, sehr vorsichtig und in sehr kleinen Schritten kommen wird. Die EZB hat den Leitzins bei null Prozent fixiert und kauft Anleihen im Wert von 2,2 Billionen Euro. In der Krise schien die Politik gerechtfertigt. Doch jetzt wächst Europas Wirtschaft.
Allerdings liegt die Inflation in der Euro-Zone mit 1,3 Prozent immer noch weit weg vom EZB-Ziel von zwei Prozent. Ein durchschnittlicher Preisanstieg von zwei Prozent - das ist für die Notenbanken aller Industriestaaten der Inbegriff stabiler Preise. Genau diese Marke möchte die EZB aber erreichen.
Also einfach weitermachen mit dem billigen Geld? Das Anleihenkaufprogramm der EZB läuft im Dezember aus. Der EZB-Rat möchte im Herbst entscheiden, ob es verlängert wird. Die Bundesbank ist dagegen, an den Finanzmärkten geht man davon aus, dass der Ausstieg aus dem billigen Geld naht. Man sieht das an den Devisenmärkten: Seit Jahresbeginn hat der Euro im Verhältnis zum Dollar mehr als 13 Prozent zugelegt. Erstmals seit Januar 2015 kletterte der Euro kürzlich über 1,19 Dollar. Die Märkte hoffen auf höhere Zinsen, sobald die EZB ihre Geldschleusen schließt. Sollte die EZB ihre Geldpolitik nun tatsächlich straffen, könnte der Euro weiter aufwerten.
Die EZB steckt deshalb in einem Dilemma: Denn der starke Euro verbilligt die Importe, was den Inflationsdruck in Europa tendenziell reduziert. Die Euro-Zone würde sich wieder von ihrem Inflationsziel entfernen.
Auch die Fed laviert
In den USA ist das gleiche Phänomen zu beobachten: Auch dort ist die Wirtschaft gewachsen, doch die Preise ziehen nicht so stark an, wie man es angesichts der lockeren Geldpolitik erwarten würde. Dieses Rätsel verstört die Notenbanker weltweit. Daher wird laviert. Auch Janet Yellen, die Chefin der US-Zentralbank Federal Reserve, hat in ihrer Rede in Jackson Hole darauf verzichtet, die nächsten Schritte ihrer Geldpolitik zu erörtern. Wie angeknackst das Vertrauen der Fed-Spitze in Lehrbuchwissen und die eigenen vermeintlichen Wahrheiten mittlerweile ist, war bereits beim jüngsten Treffen des zinspolitischen Ausschusses vor gut vier Wochen deutlich geworden.
USA:Die US-Notenbank erhöht erneut den Leitzins
Die Fed begründet die Erhöhung mit der verbesserten Situation am Arbeitsmarkt und der "moderat gestiegenen Wirtschaftsleistung".
Das Sitzungsprotokoll, das Mitte August veröffentlicht wurde, ist ein Dokument der Ratlosigkeit, wie man es bei Notenbankern noch selten gesehen hat: Ein ums andere Mal sieht sich der Schreiber nicht in der Lage, die Aussagen der führenden Geldpolitiker des Landes zu einem Fazit zusammenzuführen. "Einige Teilnehmer vertraten die Auffassung...,", heißt es stattdessen immer wieder, und dann: "Andere argumentierten hingegen..."
Die alten Regeln gelten offenbar nicht mehr
Was die Notenbanker vor allem umtreibt, ist die Frage, ob ihre althergebrachten Regeln und Richtschnüre nach wie vor gelten, oder ob sich mit der großen Finanzkrise des Jahres 2008 und der Digitalisierung der Wirtschaft die geldpolitischen Fundamente grundlegend verschoben haben. Bisher galt für US-Notenbanker die Faustformel, dass die Inflationsgefahr steigt, sobald sich der Arbeitsmarkt der Vollbeschäftigung nähert. Die Argumentation erschien logisch: Je mehr Probleme Firmen haben, qualifizierte Mitarbeiter zu finden, desto höhere Löhne müssen sie Interessenten bieten und die Mehrkosten über höhere Preise wieder reinholen. Als Schwellenwert, bei dem die Vollbeschäftigung in Sicht kommt, galt für die Fed eine Arbeitslosenquote von etwa fünf Prozent.
Im September 2015 wurde diese Marke nach vielen Jahren erstmals wieder erreicht, folgerichtig leitete die Notenbank im Dezember des Jahres die zinspolitische Wende ein. Der zweite Zinsschritt kam Ende 2016, Nummer drei und vier folgten im ersten Halbjahr 2017. Mittlerweile liegt die Tagesgeldzielspanne wieder bei 1,0 bis 1,25 Prozent. Im Februar dieses Jahres stieg die Inflationsrate erstmals wieder über den Zielwert der Fed von zwei Prozent, die Notenbank wertete dies als Signal, ihren Kurs der geldpolitischen Straffung sogar noch zu beschleunigen.
Doch dann zeigte sich das Problem: Obwohl die Erwerbslosenquote weiter auf 4,3 Prozent und damit gewissermaßen in den roten Bereich sank, stieg die Inflation nicht weiter - im Gegenteil: Sie sank plötzlich wieder. Im Mai lag sie bei gerade einmal noch 1,5, im Juni gar nur noch bei 1,4 Prozent. Seither debattieren die Gouverneure und Regionalpräsidenten der Fed nicht nur darüber, ob sie die für den Herbst geplante dritte Zinserhöhung des Jahres einmal mehr aufschieben sollen.