Ein Ameisenhaufen ist ein Hort der Ruhe im Vergleich zur Aufregung, die das Europaparlament in dieser Woche erfasst hatte. Und der Anlass war ja auch durchaus historisch. Es wurde bis zur letzten Minute verhandelt, gefeilscht, gestritten über Gesetze, die die Klimakatastrophe stoppen, die Europa unabhängig machen sollen vom Kriegsherrn Wladimir Putin - dabei aber zunächst auch erhebliche Belastungen für die europäische Wirtschaft und die Bürgerinnen und Bürger mit sich bringen.
Doch was am Mittwoch herauskam, war das totale Chaos, eine Blamage für das Europaparlament nach dem Sandkasten-Motto: Machst du mein Förmchen kaputt, mach ich deines kaputt.
Es ging in dem Streit um eine Reform des europäischen Emissionshandels (ETS), des zentralen europäischen Instruments im Klimaschutz. Die politischen Lager stimmten im Plenum ihre jeweiligen Änderungsvorschläge zum Gesetzentwurf der Kommission gegenseitig nieder. Am Ende votierte eine hinreichende Zahl von Grüne und Sozialdemokraten gemeinsam mit den Rechten im Parlament dafür, das ganze Paket zu beerdigen. Und es blieb nur ein Ausweg: Das Gesetz wurde, nach einer Intervention des dafür federführend zuständigen CDU-Abgeordneten Peter Liese, zurück an den zuständigen Umweltausschuss verwiesen.
Das Gesetz wäre Teil des "Green Deal", dieses großen Klimaschutzvorhabens
Das Gesetz gehört zum dem Paket namens "Fit for 55", das die EU-Kommission vergangenen Sommer vorgestellt hat. Die CO₂-Emissionen in der EU sollen demnach bis 2030 um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 sinken. Nur so lässt sich der "Green Deal" verwirklichen, also das Ziel, Europa als ersten Kontinent bis 2050 klimaneutral zu machen. Der Emissionshandel, eingeführt im Jahr 2005, spielt dabei eine entscheidende Rolle.
Im ETS-System wird mittlerweile fast die Hälfte des Kohlendioxid-Ausstoßes in Europa geregelt, darin erfasst sind rund 11 000 Kraftwerke und Industrieanlagen aus energieintensiven Branchen, etwa Zement, Stahl, Chemie. Nun sollen die Zertifikate weiter verknappt werden - wie sehr, darum tobt seit Wochen ein Machtkampf im Parlament.
Im Umweltausschuss hatte sich eine hauchdünne Mehrheit aus Grünen, Sozialdemokraten, Linken und Liberalen durchgesetzt. Die "Progressiven", wie sie sich selbst nannten, wollten die Ziele der Reform erhöhen: 67 Prozent weniger CO₂-Emissionen bis 2030 statt nur, wie von der Kommission vorgeschlagen, 61 Prozent. Diese höhere "Ambition", so der Fachausdruck, ermögliche es der EU, die Verpflichtungen des Pariser Klimaschutzabkommens einzuhalten, hieß es.
Peter Liese, im Europaparlament der profilierteste Klimapolitiker der Europäischen Volkspartei (EVP), hatte den Kompromiss nicht mitgetragen. Er belaste die Industrie zu sehr, sagte er: "Wir wollen eine Dekarbonisierung, aber keine Deindustrialisierung", sagte er. In der EVP-Fraktion hätte er dafür auch keine Mehrheit gefunden.
Vor der Abstimmung im Plenum versuchte die EVP unter Regie von Fraktionschef Manfred Weber, eine Allianz mit Liberalen und Sozialdemokraten zu schmieden. Sie wollten das Emissionsziel auf 63 Prozent reduzieren. Damit, so hieß es, sollte vor allem verhindert werden, dass die europäische Industrie schon im Jahr 2024 mit höheren Preisen für die CO₂-Zertifikate belastet würde - in einer Zeit, in der die Folgen des Ukraine-Kriegs noch längst nicht überstanden seien. Kritiker bei Grünen und Sozialdemokraten bemängelten, letztlich würde der EVP-Kompromiss sogar weniger CO2-Emissionen vermeiden, als die Kommission vorschlug.
In der ebenso langwierigen wie schwer verständlichen Abstimmungsprozedur am Mittwoch wurde das Papier der "progressiven Mehrheit" verworfen und dann der EVP-Vorschlag übernommen. Als ein Änderungsantrag der Sozialdemokraten - wider Erwarten und auch mangels eigener Geschlossenheit - keine Mehrheit fand, fühlten sich viele nicht mehr an die Verabredung mit der EVP gebunden. Die Gelegenheit zur Abrechnung kam, als über das ganze Paket abgestimmt wurde. Die Sozialdemokraten stimmten dagegen. Zurück blieb eine Runde von höchst erregten Parlamentariern.
CDU, SPD und Grüne warfen einander vor, mit den Rechten zu paktieren
Christdemokraten, Sozialdemokraten und Grüne warfen einander vor, mit den Rechten paktiert zu haben. Peter Liese sprach von einer "Schande" und davon, die Grünen und Sozialdemokraten seien ihrer Verantwortung für den Klimaschutz nicht gerecht worden. Das ganze Paket zu verwerfen, sei "unanständig".
Rasmus Andresen, der Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament, sprach von einem "schwarzen Tag für den Klimaschutz". Die EVP habe mit "der rechten Seite des Hauses" versucht, den Kommissionsvorschlag zu "verwässern".
Tiemo Wölken, klimapolitischer Sprecher der Sozialdemokraten, erklärte, "die Konservativen" und im speziellen Peter Liese seien verantwortlich für das Fiasko. Sie müssten sich nun in den folgenden Verhandlungen "bewegen". Schwer vorstellbar, wie das gehen soll angesichts der ideologischen Verhärtungen, die am Mittwoch deutlich wurden. Schon die bisherigen Verhandlungen verliefen äußerst zäh. Die Christdemokraten sehen nun die Sozialdemokraten am Zug. Sie hätten die "von-der-Leyen-Mehrheit" verlassen, also die Allianz mit EVP und Liberalen, hieß es.
Mit dem Chaos vom Mittwoch geriet der gesamte Zeitplan des Parlaments in der Klimagesetzgebung ins Wanken. Ausgesetzt wurde zunächst auch die Abstimmung über einen neuen CO₂-Zoll, mit dem die EU Importeure aus Drittstaaten belegen will, die sich nicht an europäische Klimastandards halten. Damit sollen Wettbewerbsnachteile europäischer Unternehmen ausgeglichen werden. Bislang werden zu diesem Zweck europäische Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, mit kostenlosen CO₂-Zertifikaten versorgt. Auch der neue Sozialfonds, aus dem ärmere Haushalte unterstützt werden sollen bei der Energietransformation, wurde erst einmal gestoppt.
Bei dem Streit geht es nicht um eine finale Beschlussfassung über das Gesetz. Das Parlament sucht erst einmal eine Haltung zum Entwurf der Kommission, die dann als Grundlage für die Verhandlungen mit dem Ministerrat dient, dem Gremium der 27 Mitgliedsländer. Diese Verhandlungen werden wohl im September beginnen. Bis dahin muss sich auch das Europaparlament in irgendeiner Form sortiert haben.