Wenn Journalisten eine Überschrift als Frage formulieren, dann in der Regel deshalb, weil sie den Inhalt der Überschrift nicht beweisen können, weshalb diese in Form einer Aussage nicht haltbar wäre. "Jede Überschrift, die mit einem Fragezeichen endet", so hat der britische Journalist Ian Betteridge einmal als Faustregel formuliert, "kann mit einem Nein beantwortet werden."
Denselben Erfahrungssatz gibt es auch in der Welt der wissenschaftlichen Aufsätze, dort ist er als "Hinchliffe's Rule" bekannt. Das Buch, das nun der renommierte Göttinger Rechtsprofessor Kai Ambos vorgelegt hat, "Apartheid in Palästina?", hat auffälligerweise auch ein solches Fragezeichen am Ende. Der Untertitel lautet: "Eine historisch-völkerrechtliche Untersuchung". Auf das Urteil des Juristen, der auch als Richter am Kosovo-Sondertribunal arbeitet, ist man gespannt.
International geächtet, aber als Begriff schwammig
Ambos beginnt mit einer differenzierten und gut lesbaren Beschreibung der Rechtslage. Apartheid ist zwar international geächtet. Aber es ist gleichzeitig ein schwammiger Begriff. Die im Jahr 1973 verabschiedete Apartheid-Konvention bezeichnet Apartheid als die "unmenschlichen Handlungen, die zu dem Zweck begangen werden, die Herrschaft einer rassischen Gruppe über eine andere rassische Gruppe zu errichten und aufrechtzuerhalten und diese systematisch zu unterdrücken".
Das sind Begriffe, die, wenn es konkret wird, viel Interpretationsspielraum lassen. Zumal wenn es um unausgesprochene politische Absichten geht, über deren Nachweis man vor Gericht oft streiten kann. Die Apartheid-Konvention ist, trotz einmütiger Verurteilung des Rassismus, deshalb nur von 109 Staaten weltweit unterzeichnet worden. Wobei kein G-7-Staat dabei ist, auch nicht Deutschland.
Vor Gericht wurde noch nie über Apartheid verhandelt
Seit der Jahrtausendwende blüht zwar die strafrechtliche Verfolgung von Menschheitsverbrechen auf. Auch im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) ist der Begriff der Apartheid verankert worden. Wobei aber auch hier unklar bleibt, in welchen Fällen eine Unterdrückung von Teilen der Zivilbevölkerung - strafbar als Verbrechen gegen die Menschlichkeit - zusätzlich auch noch als Apartheid eingestuft wird. "Primär symbolisch" nennt Ambos diesen neuen Straftatbestand - und zeigt Verständnis für Deutschland, das, als es 2002 um die Umsetzung des IStGH-Statuts in nationales Recht ging, deshalb den Tatbestand der Apartheid nicht übernommen hat. Andere Staaten wie die USA, Russland und fast alle arabischen sowie Israel sind dem IStGH gar nicht beigetreten.
"Die mangelnde Präzision des Apartheid-Verbrechens ist wohl auch der Hauptgrund für die praktisch nicht vorhandene Gerichtspraxis", schreibt Ambos. Sprich: Kein internationales Gericht hat bislang je diesen Begriff angewendet. Das zumindest dürfte sich bald ändern: Der Internationale Gerichtshof, der im Jahr 2022 von der UN-Generalversammlung beauftragt worden ist, ein umfassendes Gutachten zur israelischen Besatzung zu erstatten, beschreitet jetzt dieses Neuland.
Historisch, das ist der zweite Teil von Ambos' Buch, stammt der Begriff der Apartheid natürlich aus Südafrika. Dort bezeichnete er - in der Sprache der Täter - eine extreme Form der Segregation, ähnlich den Südstaaten der USA in den 1950er-Jahren. So galt bis Anfang der 1990er-Jahre in Südafrika ein Verbot von "Mischehen", auch von sexuellen Beziehungen, "durchaus mit den Nürnberger Gesetzen vergleichbar", wie Ambos schreibt. Das Schulsystem gönnte den Schwarzen nur die grundlegendste Bildung. Rassentrennung herrschte überall, in Gebäuden, bei der Post, bei Toiletten, weiße Notärzte behandelten keine schwarzen Verletzten.
Bewegungs(un)freiheit im Fokus der Analyse
In den heute von Israel besetzten Palästinensergebieten, das heißt vor allem im Westjordanland, können zwar alle Bewohner in denselben Läden einkaufen und zu denselben Ärzten gehen - aber hier lenkt Ambos den Blick vor allem auf die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die Hauszerstörungen, die in bestimmten Zonen geltenden Bauverbote für Palästinenser. Solche Maßnahmen, erläutert Ambos, könnten als Rassendiskriminierung gewertet werden - nach der weiten Definition der UN, die eine Diskriminierung auch aufgrund der nationalen Zugehörigkeit einschließe.
Einige Völkerrechtler meinen, dass die Segregation in den Palästinensergebieten heute zwar anders sei als im historischen Südafrika, aber in gewisser Weise sogar brutaler. Ambos zitiert etwa den Kanadier Michael Lynk, der bis 2022 UN-Sonderberichterstatter zur Lage der Menschenrechte in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten war. Gewiss: Palästinenser fänden heute keine "Whites only"-Schilder an Bushaltestellen vor wie einst Schwarze in Südafrika, schreibt er. "Andererseits gibt es gnadenlose Merkmale der ,apartness' Herrschaft Israels in den besetzten Gebieten, die in Südafrika so nicht praktiziert wurde, wie zum Beispiel getrennte Autobahnen, hohe Mauern und ausgedehnte Kontrollpunkte".
Fachleute, die an dieser Stelle zögern, gibt es zwar auch. So wie etwa der britische Völkerstrafrechtler und Rechtsanwalt Joshua Kern, der einwendet, Mauern und Kontrollpunkte seien eine Folge der Intifada, also von Terroranschlägen auf Israelis - und außerdem könne man Israel nicht ohne Weiteres die "Absicht" unterstellen, "eine andere rassische Gruppe" zu beherrschen, wenn sich der Staat 2005 freiwillig aus dem Gazastreifen zurückgezogen habe und in den 1990er-Jahren auch den Palästinensern im Westjordanland teilweise ihre politische Selbstbestimmung gegeben habe. Aber solche Stimmen muss man in Ambos' Fußnotenapparat suchen.
Ist Israels "böser Wille" belegt?
Und was ist nun Ambos' eigene Antwort auf seine Fragezeichen-Überschrift? Ein Nein? Hier, im kurzen, dritten Teil des Buches, wird es überraschend vage. Israels böser Wille, die - wie es in der Apartheid-Definition heißt - Absicht, "die Herrschaft einer rassischen Gruppe über eine andere rassische Gruppe zu errichten", sei tatsächlich eine offene Frage, konzediert Ambos. Es "lässt sich auf der Grundlage der vorliegenden Informationen gut nachvollziehbar vertreten", schreibt er, dass Israel ein Apartheid-Regime installiert habe. Deutlicher will er aber nicht werden.
Es "sollte klar geworden sein, dass der Apartheid-Vorwurf sich in seiner (völker)rechtlich begründeten Dimension nicht als ,antisemitisch' abtun und erledigen lässt", betont der Autor aber noch. Und begründet das vor allem damit, dass dieser Vorwurf "auch von israelisch-jüdischen Kreisen geteilt" werde; zumindest, wie er dann auch wieder einschränkt, von manchen Personen.