Während Deutschland bald die letzten Meiler abschaltet, erhält die Atomkraft in Frankreich eine neue Chance. Im November verkündete Präsident Emmanuel Macron den Bau neuer Kernkraftwerke. Den Hintergrund erklärt die Soziologin Sezin Topçu von der Forschungsorganisation Centre national de la recherche scientifique, die dem Wissenschaftsministerium unterstellt ist.
SZ: Frau Topçu, Frankreich hat sich für eine Renaissance der Atomkraft entschieden. Was bedeutet das für das Land?
Sezin Topçu: Ein erstes Signal in diese Richtung hatte Macron ja schon im Dezember 2020 gesendet, als er in einer Rede sagte: "Unsere energiepolitische und ökologische Zukunft hängt mit der Atomkraft zusammen." Zuletzt hat er betont, dass das Wachstum nach der Covid-Krise wieder angekurbelt werden müsse. Die Atomkraft-Renaissance verbindet für ihn die beiden Bereiche Industrialisierung und Ökologie. Er hält sie für unerlässlich, um den CO₂-Verbrauch zu senken. Von rechts war er in letzter Zeit stark kritisiert worden in der Atompolitik, vor allem für die Schließung des umstrittenen Meilers in Fessenheim an der deutschen Grenze. Aber auch dafür, dass das Programm "Astrid" aufgegeben wurde, die Entwicklung einer vierten Generation von Atomkraftwerken. Man warf ihm vor, keinen atomaren Ehrgeiz mehr zu haben. Also wollte er sich wieder an die Spitze der Bewegung stellen.
Heißt das, Macron handelt hier rein opportunistisch? Wie denkt er denn selbst über die Atomkraft?
Macron hatte sich nie gegen Atomkraft ausgesprochen, weder vor noch während seiner Amtszeit. Als Präsident blieb er zunächst eher vage, was auch mit den vielen Rückschlägen zu tun hat, die die Branche erlebte. Denken Sie an die Reaktoren in Finnland oder im normannischen Flamanville, bei deren Bau es zu enormen technischen Problemen, Verzögerungen und Kostensteigerungen kam. Die dort geplanten EPR-Reaktoren (Druckwasserreaktoren der dritten Generation, Anm. d. Red.) sollten eigentlich französische Spitzentechnik darstellen. Macron zählt zu einer Mehrheit in der französischen Elite, die, ob links oder rechts, historisch fast nie kritisch gegenüber der Atomkraft eingestellt war. Einzige Ausnahme waren die Grünen und in jüngster Zeit die linke France Insoumise. Das ist ganz anders als in Deutschland.
Faszinierend, wie zwei sich so nahe stehende Länder zu so unterschiedlichen Entscheidungen kommen.
Die Atomkraft ist in Frankreich mehr als eine Energieform. Sie ist Teil der nationalen Erzählung, der nationalen Größe, der Identität. Da gibt es eine starke Abhängigkeit. Hinzu kommt, dass auch die Entwicklung der Erneuerbaren Energien weitgehend in der Hand der Atomkraftkonzerne liegt. Das alles erschwert es jeder politischen Führungskraft enorm, die Atomkraft auch nur infrage zu stellen. Präsident François Hollande entschied nach der Katastrophe von Fukushima immerhin, den Anteil der Atomkraft von 75 auf 50 Prozent zu senken. Allerdings unternahm er wenig, um das auch in die Tat umzusetzen, er überließ es seinem Nachfolger. Insofern liegt Macron mehr oder weniger auf der Linie all seiner Vorgänger. Hinzu kommt, dass die meisten französischen Politiker offenbar nicht so stark an die Möglichkeit eines größeren Atomunfalls glauben. Nach Fukushima waren die Proteste und die Bewegung gegen die Atomkraft in Frankreich auch bei weitem nicht so stark wie in Deutschland.
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Überwiegt in Frankreich die Risikobereitschaft - und in Deutschland die Angst?
Man kann das schlecht verallgemeinern. Es gibt unterschiedliche Akteure. Pro-nukleare Umweltschützer sagen, letztlich sei die Klimabedrohung gravierender als die nukleare, zumal Atomunfälle vermutlich lokalere Auswirkungen hätten als die ja viel globaleren Folgen des Klimawandels. Da werden pragmatisch Risiken abgewogen, die man eigentlich nicht miteinander vergleichen kann. Weltweit hat die Atomenergie nur einen Anteil von 2,2 Prozent der konsumierten Energie, kann also zur Reduktion von CO₂ in Wahrheit nur wenig beitragen. Um wirklich etwas zu bewirken, müsste man die Zahl der Reaktoren weltweit verzehn- oder verzwanzigfachen. Das ist nicht machbar, selbst wenn die Atomkraft überall gesellschaftlich akzeptiert wäre, was durchaus nicht der Fall ist. Und dann reden wir noch nicht von der Endlagerung, der Proliferation oder den gewaltigen Kostensteigerungen beim Bau der Meiler.
Wurde in Frankreich genügend diskutiert, bevor man sich für neue Meiler entschieden hat?
Das ist das wahre Problem. Macron hat das verkündet, ohne dass es vorher irgendeine öffentliche Debatte oder Bürgerbeteiligung gegeben hätte. Es ist eine Entscheidung, die nicht im Mindesten von demokratischen Prozeduren begleitet war. Das wurde einfach so mitgeteilt in derselben Rede, in der auch die dritte Impfung für alle Franzosen propagiert wurde. So gesehen kam es sehr autoritär daher. Aber die Reaktionen bleiben nicht aus, etwa von der Anti-Atombewegung, die es durchaus gibt. Man sieht das gut an den Protesten gegen das Endlager, das im lothringischen Bure entstehen soll. Es gibt dort seit langer Zeit Besetzungen, Polizeiaktionen, Evakuierungen. Vor dem Sommer wurde ein Prozess gegen sieben Atomkraftgegner geführt, sie wurden behandelt, als gehörten sie einer Verbrecherorganisation an, fast wie Terroristen. Der Widerstand geht aber trotz starker Repression weiter, es gibt starke Reaktionen in der Region.
Wenn wir 30 Jahre nach vorne schauen: Welche Rolle wird die Atomkraft dann in Frankreich spielen?
Das ist noch nicht endgültig entschieden. Bisher gibt es nur eine politische Ankündigung, und die Reaktionen sind wie gesagt ziemlich stark, sie könnten bremsend wirken. Letztlich kommt es darauf an, ob der Staat bereit ist, richtig viel Geld für die Atomkraft auszugeben und das Ziel sehr offensiv zu verfolgen. Dann ist es schon wahrscheinlich, dass die alten französischen Reaktoren erneuert werden, denn da muss auf jeden Fall etwas geschehen. Das wird aber sicher nicht ohne größere Kontroversen über die Bühne gehen. Wie in Bure, das ein strategisches Projekt ist, denn das Problem mit dem Abfall ist die Achillesferse der Atomindustrie, das erklärt den Ehrgeiz, der hier im Spiel ist. Aber letztlich will niemand solche gigantischen, auf Jahrzehnte angelegten Projekte in seiner Nähe haben.
Was halten die Franzosen von der deutschen Atompolitik?
Das ist verschieden. Anhänger der Atomkraft oder pronukleare Ökologen heben auf die Kohleabhängigkeit der Deutschen ab und sagen, Deutschland werde durch den Atomausstieg noch mehr CO₂ emittieren. Einige weisen auch darauf hin, dass Deutschland französischen Strom importieren muss. Die Greenpeace-Fraktion konzentriert sich mehr auf die Tatsache, dass der Markt für erneuerbare Energien, in denen Deutschland stark ist, sehr viel schneller steigt als der für Atomkraft. Frankreich werde deshalb langfristig immer stärker abgehängt.