Das Politische Buch:Trost auf dem Wochenmarkt der Mittigkeit

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Die Demonstration musste aufgrund des großen Andrangs frühzeitig beendet werden. (Foto: Florian Peljak)

Karl-Rudolf Korte analysiert das "Zeitalter des Gewissheitsschwundes". Und er erklärt, wie es den Parteien gelingen kann, den Deutschen ihre beiden Herzenswünsche zu erfüllen, ohne dass sie einer "autoritären Versuchung" erliegen.

Rezension von Florian Keisinger

Beim Gründungsparteitag des "Bündnisses Sarah Wagenknecht" (BSW) am 27. Januar in Berlin diagnostizierte die Namensgeberin und frisch gewählte Vorsitzende, dass in Deutschland derzeit etwas "am Kippen" sei. Nach Meinung der vormaligen Linken-Politikerin sei jetzt alles möglich, sowohl ein neuer Aufbruch - womit Wagenknecht natürlich sich selbst und ihre neue Partei meinte - als auch eine Katastrophe, die dem Land im Falle des Fortbestands der Ampelkoalition und eines weiteren Erstarkens der AfD unweigerlich drohe.

Mit deutlich mehr Zuversicht blickt der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte nach vorne. Sein neues Buch setzt auf nüchterne Analyse und wissenschaftliche Empirie. Und hebt sich damit wohltuend unaufgeregt ab von den verbreiteten Abgesängen auf unsere demokratische Ordnung, die, Stichwort Weimarer Verhältnisse, derzeit gerne in grellen Farben in Politik, Medien und Publizistik angestimmt werden.

Das von Korte zu Beginn angeführte Motiv des "Wochenmarktes" ist natürlich als Metapher zu verstehen; als ein Ort, an dem nicht nur gehandelt wird - denn es ist sicherlich nicht der Markt, der die Demokratie regelt, wie Korte zu Recht betont -, sondern der in erster Linie der Begegnung und dem Austausch dient. Diesen Kommunikationsraum hätten die Parteien der politischen Mitte in den vergangenen Jahren vernachlässigt. Weswegen sie ihre Wählerinnen und Wähler nicht mehr in der Weise erreichten, die für eine vertrauensvolle "Kundenbindung" erforderlich sei. Was konkret man dagegen unternehmen könne, dazu hätte man gerne mehr erfahren. Doch bleibt das Buch hier mit dem Hinweis, die Parteien müssten sich wieder als "gute Gastgeber" auf den "Wählermärkten" positionieren, leider vage.

"Politik als Feuerlöscher"

Als ergiebiger erweist sich die Lektüre, wenn Korte die Dynamiken der Parteienlandschaft und die Besonderheiten des Wahlverhaltens analytisch in den Blick nimmt. Und das unter Rahmenbedingungen, die sich grundlegend gewandelt haben, sowohl was die mediale Berichterstattung über Politik anbelangt als auch die massiv gewachsene Komplexität der politischen Gemengelage; zumal der nationale Ordnungsrahmen längst mit einer globalen Wirklichkeit verwoben ist, die sich von Berlin aus nicht steuern lässt. Mit der Folge, so Korte, dass politische Entscheidungen immer häufiger nachjustiert werden müssten, wodurch in der Öffentlichkeit der Eindruck politischer Schwäche oder gar Ohnmacht entstehe. Die positiven Gestaltungskräfte von Politik gerieten in den Hintergrund, an ihre Stelle trete immer öfter eine "Politik als Feuerlöscher im experimentellen Modus", bei der die handelnden Akteure eher als Getriebene denn als Antreiber des Wandels wirkten.

Diese neue Unübersichtlichkeit und scheinbare Undurchdringlichkeit von Problemen, Korte spricht von einem "Zeitalter des Gewissheitsschwundes", nähre die Sehnsucht der Menschen nach eindeutigen Antworten. Auch habe sich der individuelle Umgang mit Politik gewandelt, sei heute an Parteien ungebundener sowie stärker werte- und empörungsgetrieben, eine "Collagegesellschaft", so Korte, "geprägt durch die Gratwanderung zwischen Individualisierung und Sicherheit".

Dennoch sieht Korte keinen unmittelbaren Anlass für Verdruss oder gar Untergangsszenarien, wenngleich auch er zur Vorsicht mahnt. Die demokratische Basis in Deutschland sei stabiler als in den meisten anderen europäischen Ländern; strukturell dominiere eine auf Sicherheit und Stabilität ausgerichtete "moderate politische Mittigkeit". Die häufig diagnostizierte politische Polarisierung spiegle sich bislang eher in den Umfragen als in Wahlergebnissen.

Vom "Sickergift" der AfD

Gleichwohl räumt Korte ein, dass es sich dabei um einen Befund handle, nicht um eine Prognose und man die derzeitige "autoritäre Versuchung" keinesfalls unterschätzen dürfe; zumal sich seit Antritt der Ampelregierung Ende 2021 der Debattenraum auch in Deutschland erkennbar nach rechts verschoben habe, was - auch das gehört zum Gesamtbild - einer nachholenden Anpassung an die meisten europäischen Gesellschaften entspreche. Die größte Gefahr sieht Korte darin, dass sich das "Sickergift" der AfD weiter ausbreitet, wenngleich er damit rechnet, dass die Rechtspopulisten ihr Potenzial bereits maximal ausgeschöpft haben und der Zuspruch, der ihnen derzeit entgegenschlägt, absehbar wieder abflaut.

Karl-Rudolf Korte: Wählermärkte. Wahlverhalten und Regierungspolitik in der Berliner Republik. Campus-Verlag, Frankfurt 2024. 231 Seiten, 26 Euro. (Foto: Campus)

Voraussetzung dafür sei jedoch, dass die demokratischen Parteien der Mitte ihre Verantwortung wahrnehmen und im Rahmen des politisch Möglichen den Deutschen ihren Herzenswunsch nach Stabilität und Sicherheit erfüllen. Die Klima- und Energiepolitik der Ampel habe jedoch eher das Gegenteil bewirkt, und auch in der Migrations- und Asylpolitik sei der Staat den Nachweis seiner politischen Handlungsfähigkeit bislang schuldig geblieben. Ergänzen lässt sich die Aufweichung des Lohnabstandsgebots durch die Ampel mit der knapp 25-prozentigen Bürgergelderhöhung binnen zwei Jahren, die insbesondere Bezieherinnen und Beziehern geringer Einkommen, die von derlei Lohnzuwächsen nur träumen können, kaum vermittelbar sein dürfte.

Entsprechend sieht Korte einen "Verantwortungsdruck" bei den Mitteparteien, das Gemeinwohl zu sichern, auch wenn das bisweilen zu "Politikparadoxen" führe. Konkret nennt er die Notwendigkeit, dass CDU und CSU zu Klimaschutzparteien werden müssten, während die Parteien des gemäßigt linken Spektrums ihre ideologischen Scheuklappen bei der Asyl- und Migrationspolitik ablegen sollten - was mittlerweile auch zunehmend passiert, Korte hat sein Buch im Oktober 2023 abgeschlossen.

Korte vertraut der Stärke der demokratischen Institutionen und Strukturen und setzt auf die Rationalität der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, ohne die bestehenden Bedrohungsmomente, die von rechten Populisten ausgehen, kleinzureden. Die jüngsten deutschlandweiten Großdemonstrationen gegen Rechtsradikalismus scheinen ihn darin bestätigen, vorausgesetzt, die Regierung nimmt sie nicht zum Anlass, drängenden politischen Handlungsbedarf hinten anzustellen.

Florian Keisinger ist Historiker.

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