Das Politische Buch:Die Verblendeten

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Russlandversteher in Peking: Viktor Orbán im Oktober 2023 mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. (Foto: Grigory Sysoyev/dpa)

Der österreichische Publizist Paul Lendvai hat eine große Abrechnung mit der Politik des Westens im Umgang mit Wladimir Putin vorgelegt. Besonders deutsche Politiker kommen schlecht weg. Aber natürlich auch Sebastian Kurz.

Rezension von Cathrin Kahlweit

Die letzten Bücher von Paul Lendvai, "Die verspielte Welt" und "Vielgeprüftes Österreich", waren Auseinandersetzungen mit dem Europa, das der Autor in den langen Jahrzehnten seiner journalistischen Tätigkeit bereist, erlebt, analysiert, erklärt hat. Und mit dem zweiten Heimatland, das den jungen Ungarn 1957 aufnahm.

Lendvai hatte, mit unendlich viel Glück, das NS-Regime überlebt, eine Haftstrafe und ein dreijähriges Berufsverbot im sozialistischen Ungarn überstanden und sich nach dem Aufstand 1956 in den Westen abgesetzt. Beide Bücher sind kritische, aber auch stark autobiografisch geprägte Texte, was einem mittlerweile 94-Jährigen ja auch durchaus gut ansteht.

Der 94-Jährige schreibt mit erkennbarer Emotion

Nun hat Lendvai ein neues, schmales Buch vorgelegt, das den schlichten Titel "Über die Heuchelei" trägt, es geht um "Täuschungen und Selbsttäuschungen in der Politik". Und man spürt in jeder Zeile, dass der Wiener, der lange für die Financial Times schrieb und später die Osteuropa-Redaktion des ORF leitete, empört ist. Und besorgt. Er arbeitet sich, mit erkennbarer Emotion hinter der dicht mit Fakten, Zahlen und Zitaten aufbereiteten Analyse, an einem tragischen Missverständnis ab: dass nämlich die "Anziehungskraft der Demokratie unwiderstehlich" sei. Und dass man die "von Nationalisten und Autokraten ausgehende Gefahr für die liberalen Werte des Westens" nicht habe sehen, nicht erkennen können.

Denn dass diese Gefahr besteht, daran gibt es für Lendvai keinen Zweifel. Aber er sucht die Schuld nicht allein bei den Putins, Trumps, Alijews und Orbáns dieser Welt. Sondern, auch, bei den "Heuchlern", die es sich mit diesen Autokraten bequem eingerichtet haben. Bei Spitzenpolitikern im Westen. Und so sind auch schon seine Kapitelüberschriften eine Anklage: Es geht um die "blinde Russlandpolitik Deutschlands" und das "Elend" der SPD-Ostpolitik, um die "bitteren Folgen der Ignoranz" in den Jugoslawienkriegen, um die "Dämonisierung" des Philanthropen George Soros. Und er arbeitet sich an Namen ab: am Putin-Freund Gerhard Schröder, am "Masken-Mann" Sebastian Kurz, am "Weltmeister des Zynismus", Viktor Orbán.

Gewollte "Fehlgriffe und Fehldeutungen"?

Es ist ein beliebtes Argument vor allem in der Nach-Zeitenwenden-Ära, dass man vieles von dem, was in den vergangenen Jahren geschehen ist, hätte voraussehen können. Und - bei klarerem Blick auf Intentionen und Ideologien, Abhängigkeiten und Autokratien - auch besser hätte verhindern oder bekämpfen können. Den Aufstieg Orbáns, die alte und neue Kriegsgefahr auf dem Balkan, den Überfall Russlands auf die Ukraine, den Aufstieg von Rechtspopulisten und Rechtsextremen und ihre zunehmende Dominanz in der öffentlichen Meinung etwa. Paul Lendvai aber geht so weit zu sagen, dass "Fehlgriffe und Fehldeutungen" bisweilen durchaus gewollt waren. Zum eigenen Vorteil, aus ökonomischen und monetären Gründen, aus "Verblendung". Deshalb nimmt Russland den größten Raum in seinem Buch ein: die Opposition von innen, und die Anbiederung von außen.

Paul Lendvai: Über die Heuchelei. Zsolnay, Wien 2024. 167 Seiten, 23,70 Euro. (Foto: Zsolnay/Zsolnay)

Schon 2004, schreibt Lendvai, habe der frühere Gouverneur von Nischnij Nowgorod, der Reformpolitiker Boris Nemzow, vor einer Diktatur unter Wladimir Putin gewarnt. Russland sei ein Mafia-Staat; Gesetze würden nichts gelten, Putin sei paranoid. Zehn Jahre später kritisierte er in einem ARD-Interview die imperialistische Eroberungspolitik Putins. Wenig später war Nemzow tot. Ermordet in Sichtweite des Kreml.

Warum es so unendlich lange dauerte, bis der Westen das wahre Wesen des Putinismus verstand? Lendvai greift für Erklärungsversuche weit zurück: auf "politische Pilger" aus Europa und den USA, die Lobgesänge auf den Stalinismus geschrieben hätten. Nur um dann in den Nullerjahren, beim ehemaligen Bild-Chef Kai Diekmann, zu enden, der in Putins Badehose mit dem Diktator schwimmen ging.

Auch Korrumpierbarkeit war im Spiel

Aber der "Marsch durch die Desillusionen", so Lendvai, habe nicht nur mit bereitwilliger Verführbarkeit und spätem Erwachen zu tun. Sondern auch mit schlichter Korrumpierbarkeit. Lendvai nimmt, wenn es um deutsche Russland-Fans geht, wenig Rücksichten: Die Heuchler waren und sind dabei für ihn nicht nur Sahra Wagenknecht oder AfDler wie Björn Höcke, sondern letztlich auch verstorbene wie lebende SPD-Größen wie Helmut Schmidt und Egon Bahr, Manuela Schwesig, Klaus von Dohnanyi oder Matthias Platzeck. Und, allen voran, natürlich "Putins Laufbursche" Gerhard Schröder. Der habe, wie andere aktive Funktionäre im Schröder-Netzwerk, "die Politik der bewussten Ablenkung vom wahren Charakter des Putin-Regimes finanziell ausgenützt".

Paul Lendvai ist gebürtiger Ungarn; kein Wunder also, dass er sich dem "Heuchler" Viktor Orbán widmet. Er hat Standardwerke über Ungarn geschrieben - und den Aufstieg Orbáns zum Posterboy der illiberalen Demokratie in Europa, den Angela Merkel und andere Regierungschefs ebenso wie die EU-Kommission in Brüssel aus opportunistischen Gründen allzu lange gewähren ließen, journalistisch begleitet. Der größte Heuchler sei aber Orbán selbst, schreibt Lendvai, weil dessen destruktiver Umgang mit den Institutionen der Europäischen Gemeinschaft deren Funktionsfähigkeit bedrohten.

Tief gefallen: Der frühere Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) muss sich wegen des Verdachts der Falschaussage in der sogenannten Ibiza-Affäre verantworten. Hier ein Foto aus dem Oktober 2023 vor dem Landgericht Wien. (Foto: Georg Hochmuth/dpa)

Und auch Österreichs Ex-Kanzler Sebastian Kurz darf natürlich nicht fehlen: Lendvai sucht nach dessen Gesicht hinter den vielen Masken, berichtet von dessen neuer Business-Karriere, den Korruptionsvorwürfen und der Bewunderung, die dem Jungpolitiker entgegengebracht wurde. Und lässt es sich nicht nehmen, zum Schluss den kürzlich verstorbenen Karel Schwarzenberg, Tschechiens einstigen Außenminister, zu zitieren, der Kurz einen "falschen Fuffziger" nannte.

Man kann Lendvai vorwerfen, dass er keine Kur gegen Opportunismus und Ignoranz in der Politik hat. Aber er liefert in "Über die Heuchelei" auch eine Liste seiner Helden, von Widerständlern, Klarsehern, von prinzipien- und verfassungstreuen Politikern mit. Und zeigt damit nicht nur die Politik, sondern die Welt, wie sie nun mal ist.

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