Viktor Orbán:So verwandelte Orbán Ungarn in eine "Führerdemokratie"

Viktor Orbán

Viktor Orbán im Oktober 2016

(Foto: AFP)

Paul Lendvai, einst Fan eines jungen Viktor Orbán, seziert die Lage in Ungarn - und kommt zu frappierenden Erkenntnissen.

Buchkritik von Cathrin Kahlweit

Dieser Tage jährt sich der ungarische Volksaufstand zum 60. Mal. Viktor Orbán, Ungarns Ministerpräsident, lässt derzeit kaum eine Gelegenheit ungenutzt, um den Konnex herzustellen zwischen dem Freiheitskampf der Ungarn gegen die sowjetischen Besatzer 1956, dem Freiheitskampf der Osteuropäer im Jahr 1989 - und dem Freiheitskampf der Ungarn heute.

Denn: Es sei eben "auch eine Gefahr für die Freiheit, wenn ohne jedwede Kontrolle Fremde auf dem Landesgebiet erscheinen, deren Sitten, deren Vorstellungen vom Leben sich vollkommen von den unsrigen unterscheiden, und sie unsere freie Gesellschaft auf einen Schlag oder langsam, aber gegen unseren Willen umformen". So Orbán in seinem jüngsten Interview bei Kossuth-Radio.

Wie sich die Zeiten ändern. Paul Lendvai war durchaus mal ein Fan von Orbán. Aber das ist lange her. Wenn man dem Autor und Ungarn-Kenner folgt, hat sich der zielstrebige Machtpolitiker mehr verändert als sein Land, das er mit einem "Erdbeben" und dem "Griff nach der absoluten Macht" eroberte und in eine "Führerdemokratie" verwandelt hat.

Vor mehr als 25 Jahren jedenfalls war der heutige Premier erstmals mit einer aufsehenerregenden Rede anlässlich des Staatsaktes für den 1956 hingerichteten Reformkommunisten Imre Nagy einer größeren Öffentlichkeit auch im Westen positiv aufgefallen.

Einst hielt er Orbán für progressiv und "zukunftsträchtig"

Er forderte damals auf dem Heldenplatz in Budapest als 26-jähriger, unbekannter Jungpolitiker freie Wahlen und einen Abzug der russischen Truppen. Was diese "politisch aufsässigen Worte" auch in den Augen des einstigen Ungarn-Flüchtlings Lendvai so bedeutend machte, war der Zeitpunkt, zu dem sie gesprochen wurden: noch vor der offiziellen Abdankung der kommunistischen Einheitspartei und dem Zerfall der UdSSR. Es gehörte Mut dazu.

Und ein zweites Mal sah sich der angesehene Osteuropakenner beeindruckt von dem "zukunftsträchtigen, progressiven Politiker der jüngeren Generation", als Orbán wenige Jahre später in geschliffenem Englisch in Wien eine Rede für den Liberalismus und gegen die nationalkonservative Regierung der Nachwende-Jahre hielt.

Aber der junge Mann aus kleinen Verhältnissen, der sich mit einer Gruppe enger Vertrauter und Studienfreunde daran machte, die Macht in Ungarn zu erobern und sie auf Dauer zu behalten, habe eine "liberale Maske" aufgesetzt, schreibt Lendvai im Rückblick. Und erläutert auf 240 hervorragend recherchierten, kenntnis- und detailreichen Seiten, warum "Orbáns Ungarn", so der Titel des neuen Buches, in Gefahr ist.

Über den Mann selbst, seine Ideologie und seine Politik ist in den vergangenen sechs Jahren in internationalen Medien viel berichtet worden, seit Orbán 2010 zum zweiten Mal Ministerpräsident jenes tief zerstrittenen, korruptionsmüden, hoch verschuldeten Staates wurde, der zuletzt von dem so freundlichen wie glücklosen Technokraten Gordon Bajnai regiert worden war.

Erst die Medien einschüchtern und die Justiz aushöhlen

Politikinteressierte Leser wissen, wie Orbán, mit einer Zweidrittelmehrheit ausgestattet, erst einmal die Medien einschüchterte und die Verfassungsgerichtsbarkeit aushöhlte, wie er mit einer neuen Konstitution und Hunderten von Ausführungsgesetzen die politischen Institutionen auf Linie brachte und seine Leute in allen, wirklich allen strategisch wichtigen Positionen des Staates installierte.

Wie er dafür sorgte, dass diese Leute praktisch unkündbar sind, und sich die Regierungspartei auf allen Ebenen des Staates und der Verwaltung auf Dauer festsetzen konnte. Wie er es mit einer Änderung des Wahlrechts schaffte, dass seine Partei Fidesz in Zukunft exzellente Chancen hat, eine verfassungsändernde Mehrheit zu erlangen, selbst wenn die Wahlergebnisse schlechter werden.

Das Verdienst des Buches von Paul Lendvai ist, dass er mit einem kühlen Blick seziert, was das für Ungarn bedeutet. Nämlich im Kern: Demokratische Machtwechsel würden immer unwahrscheinlicher. Das faktische Ende der Gewaltenteilung habe dazu geführt, dass Viktor Orbán "unter dem Deckmantel der Verfassungsmäßigkeit mit verfassungsrechtlichen Mitteln einen verfassungsrechtlichen Staatsstreich" vollzogen hat.

Und das, so die bedrohliche Schlussfolgerung, ist eine Methode, der die EU bisher wenig entgegengesetzt hat und die Schule machen könnte. Lendvai hält sich einige Kapitel lang mit Herkunft, Sozialisierung und der ersten Amtszeit des Fidesz-Chefs zwischen 1998 und 2002 auf. Und er beschreibt, wie der ob seiner Abwahl erschütterte Politiker die sogenannte Lügenrede des sozialistischen Premiers Ferenc Gyurcsány 2006 mithilfe von Spindoktoren so gegendrehte, dass aus einem Geständnis über den Betrug an den Bürgern eine zynische Abrechnung gemacht wurde. Er schildert, wie Orbán seine Wiederwahl strategisch plante und in einen "kalten Bürgerkrieg" eintrat.

Das Ergebnis ist bekannt: jener Erdrutschsieg, den Orbán als nationale Revolution bezeichnet, und die er wohl auch war. Die Wähler hatten ihm viel Macht verliehen. Wie viel, das sagte Orbán schon 2009 bei einer internen Parteiveranstaltung voraus, auf der er ankündigte, ein "zentrales politisches Kräftefeld" schaffen zu wollen, das für "15 bis 20 Jahre das duale System ablösen" würde. Nur einmal, so Orbán, "müssen wir siegen. Aber dann richtig".

Eine der wenige Gefahren für das System Orbán

Die Selbsteinschätzung des Premiers war nie geprägt von Selbstzweifeln. Europa, sagte er vor Studenten, brauche starke Führer. Denn die Politik sei eine Schlacht. Man müsse als Nummer eins im Staat Verleumdungen ertragen können und im Falle eines Angriffs die Moral beiseitelassen: "Wenn ich auf einer Wiese stehe und drei mich angreifen, dann kann ich nicht moralisieren oder argumentieren. Dann gibt es nur eine Aufgabe, die drei niederzumetzeln." So weit die Metaphorik.

In der Praxis führte das dazu, dass Kritiker mundtot gemacht und Nichtregierungsorganisationen, die sich für Minderheiten einsetzen, mit Verfahren überzogen wurden. Wie schwach und hilflos die Opposition agiert, die kein adäquater Gegner ist, streift Lendvai nur kurz. Weitaus anschaulicher und mit Dutzenden Beispielen belegt er die Staatskorruption, listet Männerfreunde und graue Eminenzen auf und zeigt auf, dass eine der wenigen, übrig gebliebenen Gefahren für das System Orbán derzeit nur noch der interne Streit um die Futtertröge sein könne.

Der Autor, Herausgeber der Europäischen Rundschau, der im hohen Alter noch eine Sendung im ORF moderiert, beendet seine Monografie, wie sollte es anders sein, mit einem Kapitel über Europa. Der Premier teile heftige Schläge gegen die deutsche Kanzlerin aus, er wolle ihre starke Stellung in Europa schwächen, so Lendvai. Seine sorgenvolle Quintessenz: In der zerfallenden EU erlebe der Mann aus Felcsút den "größten Machtzuwachs seines Lebens".

Paul Lendvai: Orbáns Ungarn. Kremayr & Scheriau, Wien 2016. 240 Seiten, 24 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

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