Migrationshintergrund im Bundestag:Blinder Spiegel der Gesellschaft

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Mutter Deutsche, Vater Ägypter, Geburtsort Hamburg: Fraktionsvorsitzende Amira Mohamed Ali im Kreis ihrer Linken im Bundestag. (Foto: Stefan Boness/Imago)

In puncto Vielfalt sind deutsche Klassenzimmer dem Bundestag um Jahrzehnte voraus. Warum es Parteien so schwerfällt, Menschen aus Zuwandererfamilien als Abgeordnete einzubinden.

Von Sara Maria Behbehani, Berlin

Eigentlich ist die Nachricht positiv: 83 der 735 Abgeordneten im neuen Bundestag haben eine Zuwanderungsgeschichte. Der Anstieg ist deutlich, 11,3 Prozent gegenüber 8,2 Prozent im alten Bundestag. Das jetzige Parlament repräsentiert die Menschen in Deutschland also besser als das vorherige - und ist doch noch weit von der Zusammensetzung der Bevölkerung entfernt. "Damit können wir uns nicht zufriedengeben", sagt Atila Karabörklü, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde. "Es bewegt sich etwas in den Köpfen, aber eben nicht auf den Stühlen." Denn da draußen, außerhalb des Plenarsaals mit den blauen Sitzen, hat mehr als jeder Vierte einen Migrationshintergrund (26,7 Prozent), weil er selbst oder mindestens ein Elternteil im Ausland geboren wurde.

Noch mehr verzerren sich die Relationen beim Blick auf die einzelnen Parteien: Die CDU/CSU-Fraktion stellt mit 4,6 Prozent den kleinsten Anteil an Abgeordneten mit Zuwanderungsgeschichte, gefolgt von der FDP mit 5,4 und der AfD mit 7,2 Prozent. Bei den Grünen sind es 13,6, bei der SPD 17 und bei den Linken 28,2 Prozent. Während die Linke diese Bevölkerungsgruppe also sogar überrepräsentiert, tun sich andere schwer mit dem Spiegelbild der Gesellschaft, am schwersten die Union. Wo liegen die Hürden?

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Amira Mohamed Ali ist die erste Muslimin, die es in Deutschland an die Spitze einer Partei geschafft hat. Für die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei ist klar: Politik muss man sich zeitlich und finanziell erst einmal leisten können. Menschen aus Zuwandererfamilien müssten aber häufig in prekären Beschäftigungsverhältnissen ihr Geld verdienen. Erste Hürden sieht Mohamed Ali schon im Schulsystem: "Wenn es gelänge, Chancengleichheit für alle sozialen Schichten in den Bildungseinrichtungen zu schaffen, dann würde es beim Thema Diversität und Repräsentanz ganz erhebliche Fortschritte geben."

"Ja, ich habe einen iranischen Namen."

Auch Hacı-Halil Uslucan vermisst Diversität bei den Parteien. Der Psychologe und Migrationsforscher an der Universität Duisburg-Essen stellt aber klar: "Da geht es nicht immer um Rassismus. Das wäre zu einfach." Parteien wollten der Pluralität durchaus Rechnung tragen, funktionierten aber auch nach einem Kosten-Nutzen-Kalkül. So könne eine Kandidatin mit türkischem Hintergrund vielleicht türkische Migranten gewinnen, jedoch auch deutsche Stammwähler verlieren. "Weil sie fragen: Was macht die Türkin da? Die ist doch keine von uns. Die repräsentiert uns doch gar nicht."

Der FDP-Abgeordnete Bijan Djir-Sarai bestätigt das. Es sei sehr aufwendig, jedem potenziellen Wähler klarzumachen: "Ja, ich habe einen iranischen Namen, aber ich komme auch aus Grevenbroich, ich lebe auch in dieser Region, und die Probleme, die hier existieren, sind auch meine Probleme." Doch der Aufwand lohnt sich, meint Migrationsforscher Uslucan, denn gerade Parteien könnten zur öffentlichen Wahrnehmung positiv beitragen. "Vielleicht braucht es mehr Sichtbarkeit von Personen mit ausländischen Namen in der Öffentlichkeit", sagt er. Migranten würden oft mit der Politik ihres Herkunftslands in Verbindung gebracht, in der Politik könnten sie dagegen zeigen, dass sie "loyal und aufrichtig für deutsche Interessen stehen können".

Auch Djir-Sarai wünscht sich, damit Bürger wie er sich häufiger politisch engagieren, bessere Strategien in den Parteien. "Nicht um diesen Menschen einen Gefallen zu tun, sondern weil es eine Notwendigkeit ist. Die Gesellschaft verändert sich. Menschen mit Migrationshintergrund spielen eine große Rolle, auch als Wähler", sagt er. Es nütze Parteien, die Gesellschaft in ihrer Breite abzubilden, nur dann könnten sie auch für sich beanspruchen, sie zu repräsentieren.

Allerdings erfordert das die Bereitschaft, die politische Macht mit anderen zu teilen - Menschen, die einen Schritt zurück tun, damit andere nach vorne treten können. "Es geht darum, für die Sache zu entscheiden. Wer ist am geeignetsten und welches Bild will man in Sachen Vielfalt abgeben", sagt Aminata Touré. Die Grüne aus Schleswig-Holstein ist deutschlandweit die erste afrodeutsche Vizepräsidentin eines Landtags, und die jüngste obendrein.

Auch die Grünen lösen den Anspruch nicht ein

"Es geht um Glaubwürdigkeit", sagt Touré, um einen echten Aufbruch, der personell und institutionell sichtbar werden müsse. Das verlangt auch Armaghan Naghipour, deshalb ist sie vom neuen Bundestag eher enttäuscht. Naghipour gehört dem Vorstand von Neue Deutsche Organisationen an, einem Netzwerk aus Initiativen für Vielfalt ohne Rassismus. Ihre Kritik gilt vor allem den Teams, die die Parteien in Sondierungsgespräche entsenden. "Die Verhandlungsrunden bestehen komplett aus weißen Menschen", sagt sie. "Das ist das falsche Signal." Auch die Grünen, die im Dezember ein Statut für eine vielfältige Partei beschlossen haben, lösten den Anspruch nicht ein.

Repräsentation sei kein Nice-to-have, sondern eine demokratische Notwendigkeit, mahnt Naghipour. Von der nächsten Bundesregierung fordert die Berliner Rechtsanwältin, die Themen der Einwanderungsgesellschaft aus dem Innenministerium herauszulösen, den Kabinettsausschuss gegen Rassismus und Rechtsextremismus fortzuführen und ein Partizipations- sowie ein Antidiskriminierungsgesetz zu schaffen. Bei diesen Veränderungen müssten, anders als in der letzten Legislaturperiode, Menschen mit Migrationsgeschichte und Rassismuserfahrung mitentscheiden. Dass es wirklich so kommt, glaubt Naghipour allerdings nicht. Zunächst sollten die Parteien doch einmal transparent machen, wie sich die Vielfalt der Gesellschaft im neuen Kabinett abbildet.

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