Afghanische Ortskräfte:"Das Land verlassen oder sterben"

Lesezeit: 5 min

2011 nahe Kundus: Ein Dolmetscher der Bundeswehr (2. v. r.), ein afghanischer Polizist (r.) und ein Angehöriger einer Bürgerwehr unterhalten sich an einem Checkpoint; im Hintergrund Bundeswehrsoldaten. (Foto: Maurizio Gambarini/DPA)

Die Kanzlerin hat gefordert, Ex-Helfer der Bundeswehr rasch nach Deutschland zu holen. Doch während die Lage in Afghanistan immer gefährlicher wird, verliert die Bundesregierung wertvolle Zeit. Betroffene sind bitter enttäuscht, Beobachter empört.

Von Tobias Matern und Mike Szymanski, Berlin

Sie haben geputzt und gekocht, waren für Bundeswehrsoldaten, Entwicklungshelfer und Polizisten als Übersetzer tätig. Seit dem Abzug der letzten deutschen Soldaten Ende Juni aus Afghanistan fürchten sich viele der einheimischen "Ortskräfte" vor Racheakten der Taliban - und fühlen sich von der Bundesregierung im Stich gelassen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte vor knapp drei Wochen gefordert, "dass wir hier denen, die uns sehr stark geholfen haben, auch wirklich einen Ausweg geben". So müsse darüber nachgedacht werden, Chartermaschinen zu buchen, um die verbliebenen Ortskräfte und ihre Familien auszufliegen. Aber was ist seit dieser Forderung der Kanzlerin geschehen, außer dass der Krieg in Afghanistan durch den Vormarsch der Taliban täglich brutaler wird? "Nichts", sagt Marcus Grotian, Vorsitzender des Patenschaftsnetzwerkes Afghanische Ortskräfte.

SZ PlusTaliban
:"Sie sind noch brutaler als vor 20 Jahren"

Mehr als die Hälfte Afghanistans kontrollieren die Taliban bereits - nachdem sie viele ländliche Gebiete erobert haben, kämpfen sie nun auch um große Städte. Was Zivilisten von dort berichten, klingt dramatisch. Die Regierung gibt sich dennoch optimistisch.

Von Tobias Matern

Grotian war selbst als Soldat in Afghanistan stationiert. Nun sammelt er private Spenden, um Dolmetscher, Fahrer und Köche in Sicherheit zu bringen. In Kabul betreibt sein Verein zwei Unterkünfte für 200 ehemalige Ortskräfte und ihre Familien, die aus dem früheren Einsatzgebiet der Bundeswehr im Norden des Landes in die Hauptstadt gebracht worden sind.

"Der Bedarf für diese safe houses ist aber deutlich höher als das Angebot", sagt Grotian. Nach drei Monaten voller Ankündigungen befinde sich gerade einmal ein Viertel der visaberechtigten Ortskräfte in Deutschland, das zeige, dass der Bundesregierung "der moralische Kompass völlig verloren gegangen ist". 2000 Menschen warteten zudem noch immer auf ihr Visum, doch trotz anderslautender Ankündigungen "hat in nicht einem Fall der Antragsprozess auch nur begonnen". Und 4000 Ortskräfte könnten nicht einmal auf die Chance hoffen, nach Deutschland zu kommen, "weil sie politisch gewollt ausgeschlossen sind", sagt Grotian. Die Ortskräfte etwa, die bei Subunternehmern der Deutschen beschäftigt waren, oder deren Arbeit für das Auswärtige Amt oder das Entwicklungshilfeministerium länger als zwei Jahre zurückliegt.

"Sie werden uns alle gnadenlos schlachten"

Anruf bei einer früheren Ortskraft in Kabul: Der Mann möchte seinen Namen nicht nennen, weil er Nachteile für seinen Visumsprozess befürchtet. Bis zum Ende des deutschen Einsatzes habe er für die Polizei und die Bundeswehr gearbeitet. Die deutsche Regierung habe nur "große Sprüche" parat, sagt der Mann verbittert. Berlin leiste noch immer keine Hilfe. Seine Lage schätzt er als bedrohlich ein: Sobald die Taliban Ortskräfte identifizierten, "werden sie uns alle gnadenlos schlachten, weil sie uns als Spione einstufen".

Die Bundesregierung hat nach dem Abzug der Bundeswehr aus Masar-i-Sharif, bei dem auch das deutsche Konsulat in der nordafghanischen Stadt geschlossen wurde, einen Teil des Visumsprozesses für die Ortskräfte an die Internationale Organisation für Migration (IOM) der Vereinten Nationen ausgelagert. Die IOM-Mitarbeiter in Kabul wüssten aber noch nicht einmal genau, wie die von der Bundesregierung geforderten Formulare auszufüllen seien, bemängelt die ehemalige Ortskraft: "Die IOM spielt Katz und Maus mit uns."

Noch ein Anruf, diesmal bei einem seit vielen Jahren für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) tätigen afghanischen Mitarbeiter. Die GIZ betreut für das Auswärtige Amt, das Entwicklungshilfeministerium und die Europäische Union Projekte in Afghanistan. Im vergangenen Jahr betrug das Geschäftsvolumen der Organisation zufolge 96,6 Millionen Euro. Auch der GIZ-Mitarbeiter will anonym bleiben, weil er Repressalien seines Arbeitgebers befürchtet, wenn er ihn offen kritisiert. Viele Projekte habe die GIZ wegen der Sicherheitslage auf Eis legen müssen, berichtet der Mann.

Zur Frage, wie die GIZ mit den afghanischen Mitarbeitern umgeht, die berichten, dass sie sich bedroht fühlen, sagt der Mann, dazu gebe es "bislang keine klare Ansage". Aus Sicht des Entwicklungshelfers verbleiben angesichts des Vormarsches der Taliban nur zwei Optionen: "das Land zu verlassen oder zu sterben".

Nachfrage bei der GIZ. Dort wird die Situation anders bewertet. Die zivile Unterstützung Afghanistans werde auch nach dem Ende des internationalen Militäreinsatzes fortgeführt, teilt eine Sprecherin mit. "Die Vorhaben arbeiten vorwiegend in den sechs Nordprovinzen des Landes sowie der Hauptstadt Kabul und sind weiterhin aktiv." "Die Sicherheit unserer Mitarbeitenden hat höchste Priorität. Das gilt auch in der aktuellen Situation, in der sich die Sicherheitslage im Land von Region zu Region unterscheidet und sich laufend ändert", erklärt die Sprecherin am Samstag.

"Das Verfahren ist zu bürokratisch"

Nicht nur die Opposition in Berlin, auch der SPD-Politiker Wolfgang Hellmich ist über den Umgang mit den afghanischen Ortskräften empört. Hellmich ist Vorsitzender des Verteidigungsausschusses im Bundestag, der Krieg in Afghanistan begleitet ihn seit Jahren. "Was ist denn das für eine irrwitzige Vorstellung, dass sich die Familien auf den Weg machen, das Verfahren bewältigen und sich selbst die Flüge buchen? Wenn ich auf die Karte schaue, sehe ich, wie die Taliban die Städte einkesseln."

Im April hatte Hellmich im Namen der Ausschussmitglieder eine "schnelle Lösung" angemahnt. "Und das, noch bevor die Bundeswehr aus Afghanistan abgezogen ist." Für den Politiker, immerhin Mitglied einer Partei, die Teil der Regierungskoalition ist, steht fest: "Das Verfahren ist zu bürokratisch. Zeit ging verloren." Aus seiner Sicht besteht "der Grundfehler darin, die Gefährdungsüberprüfung in Afghanistan durchzuführen". Genau umgekehrt müsste es sein, kritisiert er. "Die Leute hätten nach ihrer Gefährdungsanzeige erst rausgebracht werden müssen. Dann hätten die Überprüfungen erfolgen können."

Nun fragt sich Hellmich, ob die Unterstützung womöglich zu spät kommt: "Mit dem Abzug der Soldaten sind die Ortskräfte den Taliban ausgeliefert. Jetzt ausfliegen? Ja, aber von wo? Wo ist es jetzt noch sicher?"

Etwa 1300 afghanische Ortskräfte hat die Bundeswehr allein seit 2013 beschäftigt. Zunächst sollten nur jene aus dem Land gebracht werden, deren Arbeitsverhältnis nicht länger als zwei Jahre zurückliegt. Darunter fielen 526 afghanische Helfer der Bundeswehr. Erst Mitte Juni und nach anhaltender Kritik kippte die Regierung diese Regel. Für frühere Ortskräfte des Auswärtigen Amts oder des Entwicklungshilfeministeriums gilt sie allerdings weiterhin. Wer dagegen früher für die Bundeswehr tätig war, kann hoffen - laut Ministerium betrifft das 350 Afghanen.

Wer gehen will, nimmt in der Regel Angehörige mit. Erlaubt ist die "Kernfamilie" - der Ehepartner und minderjährige ledige Kinder. Ende Juli hatten nach Angaben der Bundesregierung insgesamt 471 Ortskräfte und 2380 Angehörige fertige Reisedokumente. Mit Stand vom vergangenen Donnerstag seien 1796 Personen nach Deutschland gekommen, davon waren 296 ehemalige Ortskräfte.

"Die Bundesregierung hat versagt"

Für jene, die noch im Land sind, wird die Lage immer schwieriger. Auch in Regierungskreisen räumt man ein, dass Afghanen zunehmend Probleme hätten, überhaupt an Pässe zu kommen. Die Bundeswehr hilft nach eigener Darstellung - aus der Ferne. Das Einsatzführungskommando bei Potsdam, das die Auslandseinsätze steuert, hat ein Callcenter eingerichtet. Sechs Teams, jeweils ein Soldat und ein Dolmetscher, sollen dort für Ortskräfte da sein. Die Bundeskanzlerin hatte gesagt, Flüge dürften nicht daran scheitern, dass jemand das Geld dafür nicht habe. Bislang lief die Ausreise vor allem über private Spender.

Das Innenministerium teilte nun mit: "Bisher wurde für eine Person ein Ticket beschafft, alle anderen haben keine Notwendigkeit der finanziellen Unterstützung angezeigt." Aber ob alle Ortskräfte über die neue Großzügigkeit der Regierung überhaupt Bescheid wissen? Bislang galt, dass sie ihre Flüge selbst bezahlen sollen.

Keine Charterflüge, bezahlte Flugtickets nur auf Verlangen, ein Callcenter der Bundeswehr statt Beschützer vor Ort - Agnieszka Brugger, Fraktionsvize der Grünen, ist entrüstet. Diese Bilanz ist nicht das, was sie sich unter Merkels Hilfsversprechen vorgestellt hat. "Die Bundesregierung hat dabei versagt, allen Ortskräften in Afghanistan umfassend, sicher und schnell zu helfen", sagt Brugger. "An dieser undankbaren Ignoranz hat auch Angela Merkels Machtwort kaum etwas geändert."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

MeinungAfghanistan
:Abschieben, das geht nicht

Die Taliban könnten schon bald wieder in Kabul herrschen. Davor darf die Bundesregierung die Augen nicht länger verschließen.

Von Tobias Matern

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: