Flucht aus der Ukraine:"Bevor jemand am Bahnhof schlafen muss, ist es besser bei uns"

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Auf der Flucht vor dem Krieg in der Ukraine kommen immer mehr Menschen am Münchner Hauptbahnhof an. (Foto: Stephan Rumpf)

Stündlich kommen Geflüchtete aus der Ukraine in München an. Auch weil die Stadt zu spät reagiert hat, sind viele Unterkünfte überfüllt. Neue werden händeringend gesucht.

Von Thomas Anlauf und Sebastian Krass

Sie kommen. Stündlich. Einhundertzwanzig Menschen erreichen am Donnerstagfrüh den rettenden Münchner Hauptbahnhof, um 10.30 Uhr kommt wieder ein Zug aus Wien an, wieder mehr als hundert Menschen, die aus der Kriegshölle in der Ukraine fliehen. Eine Stunde später ein Zug aus Budapest. Es sind vor allem Frauen und Kinder, Alte und Kranke, die Schutz suchen, Trost, eine Unterkunft, eine Zukunft in der Hoffnungslosigkeit. Doch das sind alles nur Zahlen, mit denen die Hilfsorganisationen jonglieren müssen, um zu schauen, wo ist überhaupt noch ein Schlafplatz frei.

Alina S. ist seit vier Tagen unterwegs aus den umkämpften Gebieten. Sie ist sichtlich müde, weiß nicht mehr weiter. "Wo soll ich hin?", sagt die junge Frau. Sie hat hier keine Verwandten oder Bekannten, sie musste nur fort aus ihrer von der russischen Armee zerbombten Stadt. Sie soll zunächst ins Ankunftszentrum gehen, hat ihr eine Mitarbeiterin der Caritas gesagt. Dort werde ihr geholfen.

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Es ist Tag 15 des Angriffskrieges von Wladimir Putins Armee auf die Ukraine. Niemand weiß, wie viele Menschen in den kommenden Stunden in München ankommen werden, wie viele bleiben oder das Glück haben, Freunde irgendwo in Deutschland zu haben. So wie die junge Frau aus Dnipro im Südosten der Ukraine. Sie stellt sich mit Vlada vor, hält ihrem kleinen Sohn eine Käsesemmel hin, in die er herzhaft beißt. Auch ihr großer Sohn ist mit ihr auf der Flucht, der Vater musste zurückbleiben, "er ist im Widerstand", sagt sie. Es gebe fünf bis sechs Angriffe täglich auf die Stadt.

Die 35-Jährige wirkt tapfer, lächelt ihre Söhne an. Bloß nichts anmerken lassen, die Ängste um ihren Mann, ihre Familie, ihr Zuhause, das zerstört ist. Vlada wird nicht in München bleiben, in 20 Minuten geht ihr Zug nach Aachen, dort hat sie Freunde.

Viele haben eine lange Reise hinter sich und sind einfach nur hungrig. (Foto: Stephan Rumpf)

Ein Mann steht abseits von der Menge am Infoschalter der Caritas in der ehemaligen Schalterhalle des Hauptbahnhofs. Er hat einen grauen Mehrtagesbart, die Strapazen und die Angst sind ihm anzusehen. Auch er hat es irgendwie aus der Ukraine geschafft. Viele Menschen, die dort arbeiten oder studieren, aber aus anderen Ländern stammen, haben oft Probleme, außer Landes zu kommen. Dieser Mann ist rausgekommen aus dem Krieg, er hatte dort einen guten Job. Wo er herstammt? "From UK", sagt er leise, aus Großbritannien.

Eine Ukrainerin aus dem Ankunftszentrum der Regierung von Oberbayern meldet sich am Telefon. "Es ist wirklich voll hier mit Menschen", sagt sie. Es sei nicht klar, was der nächste Schritt sei, was zu tun sei, um Schutz zu bekommen. Ein Mitarbeiter der Regierung sei vorbeigekommen und habe per Megafon den Namen einer Stadt gerufen, ob man mit dem Bus dorthin fahren möchte. Die Menschen, die im Ankunftszentrum im Münchner Norden gestrandet sind, wissen nicht einmal, wo sie jetzt genau sind und wo sie überhaupt hin können. Denn die städtischen Notunterkünfte sind meist schon voll belegt.

An vielen Stellen der Stadt suchen Leute händeringend nach neuen Unterkünften. Eine davon ist das Kulturzentrum Gasteig, das die Stadtratsfraktion von FDP/Bayernpartei in dieser Woche öffentlich als möglichen Standort ins Spiel gebracht hatte, weil der Komplex wegen der bevorstehenden Sanierung "völlig ungenutzt leer" stehe.

Plätze zum Ausruhen und Schlafen - hier Feldbetten in einem ehemaligen Lokal am Hauptbahnhof - gibt es zu wenige. (Foto: Stephan Rumpf)

Am Nachmittag ruft Gasteig-Chef Max Wagner von einer Tagung in Frankfurt aus an. Er stellt zunächst klar, dass der Gasteig noch gut genutzt sei, unter anderem für ein Impfzentrum, Corona-Kontaktnachverfolgung, Volkshochschule, Musikhochschule. "Aber wir haben auch größere Flächen frei, etwa in Foyers oder etwa in der Black Box, dort allerdings ohne Fenster", sagt Wagner. "Bevor jemand am Bahnhof schlafen muss, ist es besser bei uns." Für wie viele Menschen der Platz reicht, das könne er nicht einschätzen, aber dreistellig sei die Zahl sicherlich, "und wir können das auch kurzfristig einrichten".

Die Verantwortlichen in der Stadt wissen, dass sie zu spät auf die Flüchtlingssituation reagiert haben. Erst am Mittwoch hat Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) in einem dramatischen Appell gesagt, er werde nicht akzeptieren, "dass Menschen, die aus einem Kriegsgebiet flüchten konnten und eine Reise von vielen Stunden hinter sich haben, bei uns am Bahnhof auf dem Boden schlafen müssen - obwohl es eigentlich noch Bettenplätze gegeben hätte. Das darf sich nicht wiederholen." Doch das wiederholt sich.

Im Luisengymnasium sind Feldbetten aufgeschlagen, in Zelten vor dem Gebäude werden die Ankommenden unter anderem auf das Coronavirus getestet. (Foto: Stephan Rumpf)

Die 50 Betten in der Bahnhofsmission sind belegt, in einem Hotel der Star-G-Gruppe wurden von der Stadt 100 Betten übernommen, alle voll. In der Neuherbergstraße hat das Wohnungsamt eine Leichtbauhalle aufgebaut, sie ist regelmäßig belegt. Am Mittwochabend übernahm die Stadt eine Berufsschule in der Riesstraße, 500 Betten sind dort aufgebaut, bereits am Donnerstag waren dort 250 Menschen. Im Luisengymnasium nahe dem Hauptbahnhof waren nach SZ-Informationen zeitweise 450 Menschen untergebracht, obwohl es laut Sozialreferat nur 374 Feldbetten gibt. Im Schulhof des Gymnasiums stehen nun zwei weiße Zelte. Dort werden die Ankommenden auf Corona getestet, bevor sie das Schulgebäude betreten dürfen. Sämtliche Hilfsorganisationen arbeiten hier Hand in Hand, sagt ein BRK-Mitarbeiter. Es gibt hier nicht nur warmes Essen, sondern auch medizinische Betreuung mit Ärzten, schließlich kommen auch viele schwangere Frauen oder alte Menschen mit schweren Erkrankungen hier an.

Dorthin bringt am Donnerstagmittag eine junge Helferin eine vierköpfige Familie. An der linken Hand halten sie ihre zwei kleinen Kinder, auf dem Rücken tragen die Eltern lediglich Tagesrucksäcke, in der rechten schleppen sie Lebensmittel - Wasser, Kekse, Brot, was sie eben von der Caritas erhalten haben. "Wir sind seit dem 6. März unterwegs", sagt der Mann. "Wir wollen kein Asyl beantragen, sondern einfach nur in Sicherheit sein und hier bleiben können."

Über München im Frühherbst 2015 staunte die Welt, über die vielen Tausend Helfer, Menschen, die spendeten. Das tun sie auch heute wieder. Ohne die Tausenden Menschen, die spontan Zimmer zur Verfügung stellen, Rettungshelfer, Mitarbeiter der Sozialverbände wäre das Hilfssystem in diesem Frühling 2022 wohl schon kollabiert. Dabei steht München erst am Anfang dessen, was auf die Stadt, Bayern und Europa zukommen wird.

Am Donnerstag rollt ein Sonderzug in Richtung Ukraine. Das Münchner Unternehmen Rail Adventure hat ihn organisiert. In der polnischen Grenzstadt Chelm harren Tausende Geflüchtete aus, sie wollen weiter nach Westen. "Wir haben gute Kontakte dorthin", sagt Milena Antoli von Rail Adventure. Die Menschen dort hätten gesagt: "Bitte kommt!"

Der Zug mit 16 Waggons soll dort an diesem Freitag ankommen und Geflüchtete nach München bringen. Antoli schätzt, es werden viele Menschen sein, die einsteigen wollen. Es sind weitere 1500 Geflüchtete.

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