München:Zweite Stammstrecke bis zu 7,2 Milliarden Euro teuer und Fertigstellung erst 2037

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Die zweite Stammstrecke in München wird deutlich teurer und um Jahre verzögert fertig. (Foto: Stephan Rumpf)

Das wichtigste Infrastrukturprojekt in München wird später fertig und deutlich mehr kosten als geplant. Bayerns Verkehrsminister äußert deutliche Kritik in Richtung des Bundesverkehrsministers, der ein Krisentreffen kurzfristig hat platzen lassen.

Von Markus Balser, Heiner Effern und Andreas Schubert

Die Kostensteigerung und der Verzug beim Bau bei der zweiten S-Bahn-Stammstrecke fallen noch deutlich drastischer aus als bisher bekannt. Nach Informationen des bayerischen Verkehrsministers Christian Bernreiter (CSU) werden die Kosten von 3,8 Milliarden auf 7,2 Milliarden Euro steigen und die ersten Züge nicht 2028, sondern erst 2037 fahren. Das seien Zahlen aus der Projektbegleitung im Ministerium, sagte Bernreiter in einer spontan einberufenen Pressekonferenz am Donnerstag. Diese Angaben habe man mit denen der Bahn abgleichen wollen, die Bahn habe sie allerdings nicht offengelegt. "Wir haben die Deutsche Bahn fortlaufend mit unseren Zahlen konfrontiert", sagte er weiter. Warum das Projekt um 80 Prozent teurer wird und warum es so viel länger dauert, darauf ging der bayerische Verkehrsminister nicht ein.

Zunächst war in informierten Kreisen die Rede von einer Teuerung auf etwa fünf Milliarden und einer Verzögerung bis zum Jahr 2033. Ursprünglich war deshalb ein Krisentreffen mit Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) für diesen Donnerstag in der Staatskanzlei geplant. Dieser hat allerdings seine Teilnahme am Mittwochabend ohne Angabe von Gründen abgesagt und auch keinen Alternativtermin in Aussicht gestellt. "Das ist für mich sehr, sehr schlechter Stil. Ich halte fest: Herr Wissing kneift", sagte Bernreiter. Warum der Bundesminister den Termin in München abgesagt habe, wisse er nicht.

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Dem Bundesverkehrsministerium liegen "keine offiziellen Informationen" vor

Das sei aus "Termingründen" geschehen, erklärte eine Sprecherin des Bundesverkehrsministers am Donnerstag. Nach Informationen der SZ soll der Verkehrsminister allerdings an diesem Nachmittag weitere Termine in München gehabt haben. Zumindest einen soll er auch wahrgenommen haben. Zu den Zahlen könne man nichts sagen, der Bund sei kein Projektbeteiligter, sagte seine Sprecherin weiter. Dem Bundesverkehrsministerium lägen "daher bislang keine offiziellen und belastbaren Informationen zu Kostensteigerungen und Zeitverzug" vor. Doch wer an der Situation schuld ist, daran ließ Wissings Sprecherin keinen Zweifel: Die Zuständigkeit liege "beim Freistaat Bayern und als Vorhabenträgerin bei der DB Netz AG", hieß es auf Anfrage. Und noch einen eindeutigen Hinweis hinterließ Wissings Haus, nämlich wer sich um die fehlenden Milliarden kümmern soll. "Die Verantwortung für die Sicherstellung der Gesamtfinanzierung des Vorhabens liegt nach einer Erklärung vom 20. Dezember 2016 beim Freistaat Bayern."

Aus Bernreiters kurzer Stellungnahme ging hervor, dass sich die Zusammenarbeit des Freistaats mit dem neuen Bundesverkehrsminister bisher schon schwierig gestaltet hatte. Beziehungsweise, dass es eine solche bisher kaum zu geben scheint. Er warte seit dreieinhalb Monaten auf das Treffen, bei dem es auch um den Bau der zweiten Stammstrecke gehen solle, sagte Bernreiter. Aussicht auf Besserung besteht offensichtlich nicht. Auch in absehbarer Zeit könne Wissing nicht nach Bayern kommen, habe dessen Ministerium mitgeteilt, hieß es auf der Pressekonferenz. Von der Deutschen Bahn erwarte er, dass sie ihre Kostenschätzung und ihren Zeitplan offenlege, so Bernreiter.

Großvorhaben in Problemen: Die Bahn informiert derzeit nur auf den offiziellen Bautafeln. (Foto: Matthias Balk/dpa)

Doch die DB sagt zu dem Thema gar nichts. "Wir stehen im regelmäßigen Austausch mit unseren Projektpartnern. Dies umfasst auch die Zeit- und Kostenpläne des Projekts, die wir aktuell überprüfen. Da diese Überprüfung noch nicht abgeschlossen ist, äußern wir uns zur aktuellen Berichterstattung nicht", teilte eine Sprecherin mit. Es könnte sogar noch schlimmer kommen: Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung ist bei den Kosten von 7,2 Milliarden die Inflation aus dem Jahr 2022 noch gar nicht berücksichtigt.

Dafür zeigte sich Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) umso enttäuschter - über die Situation bei der zweiten Stammstrecke und die Absage des Krisengipfels durch Bundesverkehrsminister Wissing. Reiter sprach von einer "wohl unglaublichen weiteren Verzögerung". Sollten sich die Zahlen bewahrheiten, wäre dies "eine inakzeptable Entwicklung". Nicht nur Hunderttausende Pendlerinnen und Pendler seien jeden Tag auf ein funktionierendes S-Bahn-Netz und die zweite Stammstrecke angewiesen, sondern "die weitere Entwicklung der gesamten Region" sei vom Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs abhängig. Diese sei "nicht nur der Wirtschaftsmotor Bayerns, sondern auch der Bundesrepublik Deutschland insgesamt". Er hoffe, Bund, Freistaat und die Bahn sorgten dafür, dass die zweite Stammstrecke, "das größte Infrastrukturprojekt Deutschlands, kein zweiter Berliner Flughafen" wird. Der Flughafen gilt als größtes Negativbeispiel, wie die öffentliche Hand durch Pannen und Verzögerungen Geld bei einem Großprojekt verbrennen kann.

Wie sich die Kostensteigerungen auf den Hauptbahnhof - hier die Baustelle an der Ecke Schiller-/Bayerstraße - auswirken werden, ist noch völlig unklar. (Foto: Florian Peljak)

Welche Auswirkungen die Verzögerung und die Mehrkosten auf weitere Infrastrukturprojekte - etwa auf den Münchner Hauptbahnhof - haben, ist aufgrund der spärlichen Informationen völlig unklar. Bayern bekenne sich zu seiner Verantwortung, die zweite Stammstrecke sei für Hunderttausende Menschen täglich enorm wichtig, sagte Bernreiter. Er fordere nun auch vom Bund ein klares Bekenntnis dazu. Die Kosten teilen sich der Bund zu 60 Prozent und der Freistaat zu 40 Prozent untereinander auf. Dieses Verhältnis gilt auch bei Preissteigerungen. Die Bahn schießt 177 Millionen Euro zu, die Stadt München 161 Millionen. Preissteigerungen waren schon von Beginn an ein Thema: 2012 ging man noch von zwei Milliarden Euro Baukosten aus, 2015 von 3,1 Milliarden inklusive Risikopuffer, beim Baubeginn schließlich von 3,85 Milliarden, etwaige Risiken eingerechnet.

Die Fahrgastverbände, die von Beginn an den Stammstreckentunnel kritisch sahen, sind von der Entwicklung nicht überrascht und sehen sich bestätigt. "Kostensteigerung und Verzögerung hatten wir erwartet, das hat sich bei Gesprächen auch schon seit einiger Zeit abgezeichnet - nur Zeitpunkt der Kommunikation und kommunizierter Umfang, das war noch unklar", sagte Andreas Barth, Münchner Sprecher von Pro Bahn. "Das war auch nicht die erste und wird nicht die letzte sein", vermutet er. "Das Projekt ist Bayerns BER, wir sind in der gleichen Größenordnung der Kostensteigerung, und die Zeitverzögerung ist schlimmer." Barth sieht aber - anders als der bayerische Verkehrsminister - die Verantwortung bei der Landesregierung "unter kräftiger Mithilfe der Stadt". Zur Erinnerung: Die Verbände und auch die Grünen hatten sich einst für den Ausbau des Südrings anstelle des Tunnels eingesetzt. Der damalige Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) allerdings hatte 2009 den Tunnel als eindeutig bessere Lösung bezeichnet und ein vom Freistaat beauftragtes vergleichendes Gutachten der beiden Varianten als "sonderpädagogische Maßnahme" abgetan.

Das zusätzliche Geld müsse anderswo eingespart werden, fürchten Verbände

"Es war absehbar", sagte auch Wolfram Liebscher von der Münchner Kreisgruppe des Verkehrsclubs Deutschland (VCD). "Wir hatten vor zwei Jahren bereits Informationen, dass der damals genannte Zeit- und Kostenrahmen nicht aufgeht." Zu befürchten seien nun "arge Konsequenzen" für die Fahrgäste und für die Wettbewerbsfähigkeit des öffentlichen Nahverkehrs. Das zusätzliche Geld müsse anderswo eingespart werden, vermutet Liebscher. Und die Baukapazität fehle nun anderswo im Bahnnetz zur Beseitigung von Kapazitätsengpässen. "Das Dilemma ist, dass die Tücken des Tunnelbaus in der Planung allzu stark unterschätzt werden." Anderseits werde die Politik nicht müde, immer mehr Tunnel zu fordern. Das verteuere den Verkehr immens. So plädiere der VCD für kostengünstigere und schnellere Planungen, etwa die oberirdische Einbindung der zweiten Stammstrecke in den Ostbahnhof. Doch dazu fehlten nach rund 20 Jahren Planung immer noch belastbare Untersuchungen.

Alle Münchner S-Bahnen müssen derzeit auf der 1972 zu den Olympischen Spielen eröffneten Stammstrecke in einem Tunnel die Innenstadt unterqueren. Um dieses Nadelöhr zu beseitigen, wird auf rund zehn Kilometern eine zweite Stammstrecke gebaut.

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Der Bau soll sich zudem um mindestens fünf Jahre verzögern. Die Pannen hätten massive Auswirkungen auf die Stadt. Ein Krisengespräch dazu in der bayerischen Staatskanzlei lässt der Bundesverkehrsminister kurzfristig platzen.

Von Heiner Effern

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