Kompass Literaturfest:So vielseitig war das Literaturfest noch nie

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Geradezu schwindelerregend wirkt nicht nur dieser Bücherstapel, sondern auch das reichhaltige Angebot des Münchner Literaturfests 2022. (Foto: Frank Rumpenhorst/dpa)

Die 63. Münchner Bücherschau, multimediale Literaturhaus-Festabende und eine szenige neue "Münchner Schiene": Was das Literaturfest in diesem Jahr zu bieten hat - ein Überblick.

Von Antje Weber

"Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus. Ein Gedicht, ein Witz, ein Glas. Wir lachen, obwohl die Nacht hinter jedem Einzelnen tief und schwarz steht." Mit diesen Sätzen endet ein Text von Tanja Maljartschuk; es ist nur einer von vielen glänzenden Essays ihres neuen Bands. Und auch wenn die Sätze in einem ganz anderen Zusammenhang geschrieben wurden: Vielleicht lassen sie sich doch auch auf das an diesem Mittwoch beginnende Literaturfest München beziehen. Denn vielleicht kann dieses Festival der Bücher und Gespräche bis 4. Dezember ja ein Aus- und Durchatmen in schwierigen Zeiten bedeuten; die gute Gelegenheit, sich an den verschiedensten Orten von Literaturhaus bis HP8 mit Gedichten, Geschichten, Gedanken zu füllen und das eine oder andere Glas zu leeren. Und bei allem Ernst vieler Themen hoffentlich auch zwischendurch zu lachen.

Forum Mitteleuropa

Andrej Kurkow, hier kürzlich in Frankfurt, wird gleich mehrmals beim Literaturfest München lesen - und den Geschwister-Scholl-Preis entgegennehmen. (Foto: Christoph Hardt/imago/Panama Pictures)

Die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk kuratiert in diesem Jahr das Forum des Literaturfests. Und bei aller Humorbegabung nicht nur dieser Autorin - bei diesem Schwerpunkt geht es doch vor allem um Tiefenbohrungen in schwarzer Nacht. "Frei sein" heißt der erste Teil ihres Mottos, was sich selbstredend auf den Kampf der Ukrainer gegen den Krieg bezieht, den russische Aggressoren ihrem Land aufgezwungen haben. Prominente Schriftsteller wie der Geschwister-Scholl-Preisträger Andrej Kurkow (16., 17., 29.11.), Friedenspreisträger Serhij Zhadan (21.11., Lesung und Konzert) und Heine-Preisträger Juri Andruchowytsch (20.11.) reisen an. Was es mit Autoren macht, wenn sie als Soldaten an der Front kämpfen, erzählen Artem Tschech und Artem Chapeye (18.11.). Insgesamt sind mehr als zwanzig ukrainische Autorinnen und Autoren zu erleben, von Katja Petrowskaja bis zu - ja, Juris Tochter - Sofia Andruchowytsch (22.11.).

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Doch es wird bei diesem Forum nicht allein um die Ukraine gehen. Denn der zweite Teil des Mottos, "Mitteleuropa neu erzählen", ist der Kuratorin ebenso wichtig. Wie werden die Ukraine und andere Länder der ehemaligen Sowjetzone wahrgenommen, warum verschiebt sich die "geistige Grenze Mitteleuropas" erst jetzt nach Osten? Im Austausch mit Schriftstellern verschiedener Länder soll das ergründet werden - erwartet werden daher zum Beispiel auch die aus Rumänien stammende Nobelpreisträgerin Herta Müller (17.11.), Sofi Oksanen aus Finnland (24.11.), Georgi Gospodinov aus Bulgarien (18.11.) oder Robert Menasse aus Wien (20.11.). Ein Symposium im NS-Dokuzentrum wird ergänzend den "Mythos Europa" und "Das Böse" umkreisen - und die Kammeroper "Wassyl Stus" über den gleichnamigen Dichter das Böse anschließend im Ampere an einem Beispiel vorführen (19.11.). "Wir fliegen in die Zukunft, und wenn es uns das Leben kostet", schrieb der Dissident aus einem sowjetischen Straflager. Das ihn das Leben kostete.

Münchner Bücherschau - Programm

Andrea Wulf stellt ihr neues Sachbuch "Fabelhafte Rebellen" über die Romantiker vor. (Foto: Peter Back/imago/Future Image)

Als Grenzgänger kann man den Schriftsteller Andrej Kurkow in vielerlei Hinsicht beschreiben. Der in Kiew lebende Schriftsteller reist derzeit nicht nur wie viele Kolleginnen quer durch Europa; er überwindet auch die Grenzen zwischen dem Forum und der Bücherschau des Literaturfests. Bei der Bücherschau, deren Veranstaltungen in diesem Jahr überwiegend im HP8 stattfinden, wird er aus seinem atmosphärisch dichten historischen Kiew-Krimi "Samson und Nadjeschda" lesen. Für sein "Tagebuch einer Invasion" wiederum erhält er am 28. November nicht-öffentlich den Geschwister-Scholl-Preis; am Tag darauf stellt er sein eindringliches Zeitzeugnis öffentlich in der Buchhandlung Lehmkuhl vor.

Die Bücherschau hat aber noch mehr an prominenten Namen zu bieten: Die Londoner Sachbuchautorin Andrea Wulf, mit einem Bestseller über Alexander von Humboldt bekannt geworden, denkt in "Fabelhafte Rebellen" über die einstigen Romantiker von Goethe bis Novalis nach, die die Wahrnehmung von Natur und Mensch nachhaltig veränderten (18.11.). Auch Bestsellerautoren wie Rafik Schami (24.11.) oder Krimi-Autorin Charlotte Link (26.11.) werden unter anderen erwartet. Fantasy-Autor Markus Heitz (Theater viel Lärm um nichts, 29.11.), Schöpfer einer erfolgreichen "Zwerge"-Saga, wird die Herzen seiner Fans vermutlich ebenso höher schlagen lassen wie Thriller-Autorin Ursula Poznanski (1.12.). Amelie Fried erzählt in "Traumfrau mit Ersatzteilen" vom Älterwerden und einigem mehr (27.11.), Claudia Schumacher in "Liebe ist gewaltig" von familiären Alpträumen (19.11.). Und im Literaturhaus ist Joe Sacco zu Gast - der in den USA lebende Comiczeichner erhielt im vergangenen Jahr den Geschwister-Scholl-Preis, konnte aus pandemischen Gründen jedoch nicht anreisen. Nun kann er sein Werk "Wir gehören dem Land" endlich in München vorstellen (20.11.).

Festprogramm Literaturhaus

Helmut Dietl (hier auf einem Bild aus dem Jahr 1995) ehren - das hat sich der Journalist Claudius Seidl in einer neuen Biografie vorgenommen. (Foto: Catherina Hess/SZ Photo)

Auch das Genre Comic ist eine Art Klammer zwischen den diversen Literaturfest-Strängen. Denn im Literaturhaus selbst setzt man einen weiteren, diesmal multimedialen Fokus: Comic, Film, Performance und Musik sollen hier als Erweiterung des geschriebenen Wortes gefeiert werden. So stellen der Autor Thomas von Steinaecker und der Zeichner David von Bassewitz ihre gemeinsame Graphic Novel über den Komponisten Karlheinz Stockhausen vor (1.12.). Ein Abend mit dem "Heimat"-Regisseur Edgar Reitz (28.11.) ist ebenso geplant wie ein Abend über Helmut Dietl, dem der Journalist Claudius Seidl ein weiteres Denkmal in Form einer Biografie errichtet hat (30.11.); der Autor und Filmemacher Peter Stephan Jungk wiederum beschwört die Stadt Paris (29.11.). Die einzige Frau, die in dieser Reihe gewürdigt wird (was dieser feministischen Autorin sicher nicht entgeht), ist Jovana Reisinger. Ihr Essayband "Enjoy Schatz" und Film-Ausschnitte werden im Literaturhaus einen Kontrapunkt setzen. Wie heißt es am Ende des Bandes: "Helle Blitze, laute Donner. / Komm her und fuck me. / Und dann love me real good." (25.11.)

Münchner Schiene

Ein Barbie-Image schaffen, um es sofort wieder zu unterlaufen: Jovana Reisinger. (Foto: Friedrich Bungert)

Helle Blitze wird Jovana Reisinger vielleicht noch bei einem weiteren Auftritt schleudern: Sie ist auch bei der "Münchner Schiene" zu Gast, die erstmals installiert wird, um die - junge - Münchner Szene stärker einzubeziehen. Der Autor und Musiker Benedikt Feiten hat ein Programm kuratiert, das von 28. November an verschiedene, eher Szene-affine Orte der Stadt einbindet. Reisinger wird am 1. Dezember im Zirka Space im Kreativquartier dabei sein, wenn Literatur, Musik, Tanz und Illustration aufeinandertreffen, personifiziert durch unter anderen Comiczeichnerin Lisa Frühbeis oder Rapper Roger Rekless. Wie schreibt man über das Gefühl des Nicht-Dazugehörens? Das werden in der Favorit Bar Slata Roschal und Martin Kordić darlegen, die jüngst beeindruckende Bücher zum Thema vorgelegt haben (28.11.). Auch zwei Open Mics (30.11./1.12.), ein Live-Hörspiel (2.12.) oder ein literarisches Gastmahl im "Speisewagen" des Bellevue-Cafés (30.11.) sind auf Schiene gesetzt.

Bücher-Ausstellungen

Vorbei ist - vorerst - die Zeit im Gasteig: Die Bücherschau stellt die Neuerscheinungen von mehr als 100 Verlagen in diesem Jahr erstmals im Literaturhaus auf. Täglich von 8.30 bis 23 Uhr wird es also voraussichtlich lebhaft in der Ausstellungshalle im Erdgeschoss hinter der Brasserie zugehen, dort kann man sich schon mal auf ungewohnt viel Kindergetrappel einstellen. Die unabhängigen Verlage, denen traditionell ein Wochenende im Literaturhaus gewidmet ist, werden am 26./27.11. dagegen wie üblich im dritten Obergeschoss zu finden sein - darunter auch die Werke, die vom Freistaat als " Bayerns beste Independent-Bücher 2022" ausgezeichnet wurden.

Familienprogramm

Kinder und Jugendliche zum Lesen bringen, ist ebenfalls stets ein Anliegen der Bücherschau. Das Schulklassenprogramm ist bereits so gut gebucht, dass dafür nur noch digitale Anmeldungen möglich sind. Für Familien sind ebenfalls einige Veranstaltungen geboten, insbesondere im HP8 und der Bibliothek im Literaturhaus; ein Nachmittag mit Kirsten Boie dort ist allerdings schon ausgebucht. Karten gibt es zum Beispiel noch für Lesungen des Fantasy-Meisters Jonathan Stroud (20.11.), Ute Krause (3.12.), Jan Weiler (4.12.) oder das Literarische Jugendquartett, bei dem Jugendliche ihren Altersgenossen Lesetipps geben (27.11.). Kinder und Ex-Kinder, ab morgen wird's was geben - einmal tief durchatmen, und dann geht's schon los.

Literaturfest München, Mittwoch, 16. November, bis 4. Dezember. Das ganze Programm: literaturfest-muenchen.de

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