Literatur:Von Ängsten und Aufbruch

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Prüfender Blick, hinter einer Maske hervor: Ausschnitt aus dem Titelbild von Slata Roschals Roman "153 Formen des Nichtseins". (Foto: Homunculus Verlag)

Wenn eine russische Familie, von den Zeugen Jehovas geprägt, nach Deutschland auswandert: Slata Roschal beschreibt in "153 Formen des Nichtseins" die schwierige Identitätssuche einer jungen Frau.

Von Antje Weber, München

Ein schmaler Frauenkörper ist auf dem Titelbild zu sehen, das Gesicht den Betrachtern zugewandt; die Augen blicken prüfend, aber auch herausfordernd hinter einer Maske hervor. Das passt gut zum Roman von Slata Roschal, der unter dem Titel "153 Formen des Nichtseins" von, ja, sehr vielen Formen des Nicht- oder Dazwischenseins erzählt: In 153 Abschnitten erzählt Roschal von einer Jugend zwischen den Kulturen, Sprachen, Religionen, von Klischees und Konflikten, Ängsten und Aufbruch.

Slata Roschal, 1992 in Sankt Petersburg geboren, wanderte mit ihrer Familie nach Deutschland aus, als sie kaum fünf Jahre alt war; sie wuchs in Schwerin auf, studierte in Greifswald und promoviert derzeit an der LMU München in Slawistik über Dostojewski. Vieles davon scheint auf im Debütroman dieser Autorin, die zuvor unter anderem zwei Gedichtbände veröffentlicht hat und bereits mit etlichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet wurde. Doch die biografische Deutung von Literatur ist zumindest ihrer Ich-Erzählerin Ksenia zuwider: "Ich kann diesen Biografismus nicht vertragen", sagt sie einmal ihrem Psychoanalytiker, "es ist eigentlich längst klar, dass es um Texte gehen sollte".

Also, zum Text: Er ist aus Erinnerungssplittern, Tagebuchnotizen, Infotexten und Internetfunden zusammengesetzt, und seine fragmentierte Form entspricht dem Inhalt. Denn hier geht es um eine schwierige Identitätssuche, eine Zerrissenheit zwischen so disparaten Welten, dass sie sich kaum in einer runden, abgeschlossenen Romanhandlung abbilden ließe. Verbunden sind die Texte durch die wiederkehrenden Themen, die sie durchziehen. Wie zum Beispiel die russische Herkunft der Familie mit allen Problemen, die sie mit sich bringt: komplizierte Zweisprachigkeit, Außenseiter-Gefühle, in diesem Fall auch Geldknappheit.

Die Ich-Erzählerin ihres Romans balanciert "zwischen zwei Formen des Nichtseins, des Russischseins und des Deutschseins": Slata Roschal. (Foto: Ammy Berent)

Jetzt erwarte aber niemand, dass Slata Roschal uns in diesen Kriegszeiten "die Russen" erklärt. "Wenn ich von Russen rede", so schreibt sie im Roman, "dann gehe ich von etwa dreihundert Russen aus, die ich seit meiner Kindheit bis jetzt kennengelernt habe. Ich kenne sie zu wenig, um sichere Aussagen über ihre Essgewohnheiten, ihre familiären Sitten, ihr Humorgefühl, die Häufigkeit und Menge ihres Alkoholkonsums, ihre Haustiere, ihre Kleidung und Kosmetik, sexuelle Vorlieben, Bildung und Arbeit treffen zu können." Was sie allerdings feststellt: "Manchmal ist das Russisch der hier lebenden Russen so grauenhaft, dass ich sie am liebsten aus der Russen-Kartei streichen und in die Deutschen-Kartei überführen möchte, eine Umsiedlung, die nur in meinem Kopf passiert".

In diesem Kopf muss sich Ksenia immer wieder mit Klischees und Vorurteilen auseinandersetzen. Im Gymnasium verteidigte die Aussiedlerin ihre "angebliche Heimat, an die ich mich kaum erinnern konnte, und balancierte zwischen zwei Formen des Nichtseins, des Russischseins und des Deutschseins". Sie erlebt das Drama des einsamen Kindes, das auch Schriftstellerinnen wie Lena Gorelik in ihren Werken beschreiben, mit aller Traurigkeit, auch Scham.

Doch bei Slata Roschal kommt noch eine weitere Dimension hinzu. Denn die Familie der Ich-Erzählerin konnte zwar nur deshalb nach Deutschland ausreisen, weil der jüdische Großvater sie nachholen durfte - doch eigentlich sind die Eltern Zeugen Jehovas, und das bedeutet eine zusätzliche Bürde für die Kinder. Ksenia muss scheußliche lange Röcke tragen und sich auf stundenlangen Versammlungen indoktrinieren lassen. Die Erziehung ist streng - Prügel gehören dazu -, die Sexualmoral rigide. Kein Wunder, dass es in diesem Roman auch um eine Auseinandersetzung mit Körperbildern geht, um Vorstellungen von Weiblichkeit, auch um die Rolle als junge Mutter übrigens.

Gleich einer der Anfangstexte beschreibt die erste heimliche Liebesaffäre der Achtzehnjährigen mit einem doppelt so alten Mann: Georgij oder Georg ist zur Hälfte Russe, zur Hälfte Armenier, "ein richtiger Mann, stark, potent, mit allen dazugehörigen Attributen, einem großen Mercedes und einer behaarten tätowierten Brust", und er hat genaue Vorstellungen davon, wie Frauen sind - entweder Mutter und Ehefrau oder Nutte. Und die junge Frau, die sich in ihn verliebt hat, versucht ihm zwar zu widersprechen - doch "schwankend auf hohen Absätzen" eben auch zu gefallen.

Wie löst man sich von seinen Prägungen? Dieses Buch ist das beeindruckende Zeugnis einer Bewusstwerdung, einer mühsamen Selbstermächtigung und gibt Einblick in die Reflexionen und widersprüchlichen Gefühle, die zu einem solchen Prozess dazugehören. Die Ich-Erzählerin träumt nicht zufällig davon, einen "Roman zu schreiben über die Angst vorm Nichtsein", träumt davon, "dann die Ganzheit im Text, durch einen Text zurückzugewinnen". Der Weg vom Nichtsein zum Sein, er führt über das Schreiben.

Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins, Homunculus Verlag Erlangen , 176 Seiten, 22 Euro.

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