Für die einen ist es ein Grund zur Freude, für die anderen ein andauernder Anlass zur Sorge: In diesen Tagen jährt sich die erste atomrechtliche Genehmigung und damit der Startschuss für den Bau eines der derzeit leistungsstärksten Atomforschungsreaktoren Deutschlands, die Neutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz in Garching, zum 25. Mal. Am 4. April 1996 hat das bayerische Umweltministerium den Nachfolgebau des als "Atom-Ei" bekannt gewordenen ersten Forschungsreaktors auf dem Campus der Technischen Universität München (TU) offiziell möglich gemacht. Während beim ersten Spatenstich im August 1996 Vertreter aus Wirtschaft und Wissenschaft stolz Bayern als Standort internationaler Spitzenforschung priesen, protestierten Gegner vor der Zufahrt. Bis heute sehen Umweltschützer und auch Anwohner den Forschungsreaktor München II (FRM II) äußerst kritisch und fordern seine Abschaltung.
Den Grundstein dafür, dass bis heute in Garching Nuklearforschung betrieben wird, legten Physiker wie Werner Heisenberg und Heinz Maier-Leibnitz bereits in den Fünfzigerjahren. Sie überzeugten die politischen Entscheider, darunter den damaligen Bundesatomminister Franz Josef Strauß (CSU), von der Notwendigkeit eines Forschungsreaktors für die Münchner Wissenschaftler. Da eine Einrichtung auf dem Stammgelände der TU, damals noch Technische Hochschule, mitten in München zu gefährlich erschien, fand man nördlich der Landeshauptstadt eine geeignete Fläche, unbebaut und nahe der Isar, die Kühlwasser liefern und Abwasser aufnehmen kann. Die Garchinger Ortspolitik stand dem wissenschaftlichen Pionierprojekt offen gegenüber, der Gemeinderat befürwortete das Projekt einstimmig. 1957 wurde das Atom-Ei nach einer Bauzeit von nicht einmal einem Jahr in Betrieb genommen, als erster deutscher Kernreaktor.
Forschungsreaktor in Garching:Austritt von radioaktivem Kohlenstoffdioxid war eine "Störung"
Die Technische Universität stuft den Vorfall im März 2020 nun doch höher ein. Die Gegner des Forschungsreaktors sehen sich in ihrer Kritik bestätigt.
Um mit der internationalen Forschungskonkurrenz mithalten zu können, wurde die Leistung des Reaktors mehrmals erhöht, auf am Ende bis zu etwa fünf Megawatt. Doch die Ziele waren inzwischen höher gesteckt und so reifte Anfang der Achtzigerjahre an der TU die Idee, in direkter Nachbarschaft zum Atom-Ei eine neue, leistungsstärkere Anlage zu errichten. Bis sich am FRM II nach der atomrechtlichen Genehmigung die ersten Neutronen in Bewegung setzen, dauerte es jedoch wesentlich länger als beim Vorgängerbau: 2000 wurde das Atom-Ei nach 43 Jahren im Einsatz stillgelegt.
Am 2. März 2004 ging der neue Reaktor mit einer thermischen Leistung von 20 Megawatt in Betrieb. Bis heute sind dort nach Rechnung des angeschlossenen Maier-Leibnitz-Zentrums (MLZ) 4,2 mal 10 hoch 26 Neutronen produziert worden, das sind 420 Quadrillionen, eine Zahl mit 24 Nullen, und nach Angaben des MLZ etwa 6000 mal so viele Neutronen, wie es Sandkörner in der Sahara gibt.
Jedes Jahr bewerben sich Hunderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt, um mit Hilfe des Forschungsreaktors ihre Experimente aus den Bereichen Physik, Chemie, Biologie, Materialwissenschaften oder auch Kulturgeschichte vorzunehmen; zwei Drittel der Messzeit am FRM II stehen nach Angaben des Bundesministeriums für Bildung und Forschung dafür zur Verfügung, das übrige Drittel wird für Forschungsanliegen der TU, Ausbildung oder für Projekte von Industrie und Medizin genutzt. So werden in Garching zum Beispiel Radioisotope gegen Prostatakrebs und Leberkarzinome hergestellt und jährlich bis zu 15 Tonnen Silizium für die Halbleiterindustrie veredelt.
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Zu den größten wissenschaftlichen Erkenntnissen, die in den vergangenen Jahren am FRM II gewonnen wurden, zählen die Entdeckung und Erforschung von Skyrmionen, magnetischer Wirbel, die es ermöglichen sollen, in Zukunft Informationen auf noch kleinerem Raum zu speichern, die systematische Erforschung von Lithium-Ionen-Batterien und alternativen Akkus für die Elektromobilität und stationäre Speicher von Solarstrom, die ohne Kobalt auskommen sollen, oder das Durchleuchten von Dinosaurier-Eiern.
Möglich sind solche Experimente in großer Zahl dank des hohen Neutronenflusses im FRM II, der durch den Einsatz von Brennelementen mit hochangereichertem Uran erreicht wird. Seit dem Betriebsbeginn wurden in Garching nach Angaben des MLZ insgesamt 69 Kilogramm Uran U-235 verbraucht. Das kritisieren Atomkraftgegner heftig, gilt hochangereichertes Uran doch auch in abgebranntem Zustand - nach komplexen physikalischen und chemischen Verfahren - noch als nutzbar für die Herstellung von Atomwaffen.
Zudem gibt es bis heute keine Strategie, was langfristig mit den abgebrannten Brennstäben geschehen soll. In Normalzeiten verbraucht die Forschungsneutronenquelle vier Brennelemente pro Jahr; das Uran dafür kommt hauptsächlich aus Russland, in Frankreich werden daraus die Brennstäbe gefertigt. Sind diese abgebrannt, bleiben sie zunächst für mindestens sechseinhalb Jahre im Abklingbecken in Garching, bevor sie planmäßig in ein Zwischenlager im nordrheinwestfälischen Ahaus gebracht werden.
International gibt es schon seit Jahren Bestrebungen, in Forschungsreaktoren nur noch niedrigangereichertes Uran zu verwenden. Die Genehmigung von 2003 sah ursprünglich vor, dass auch der FRM II bis 2010 auf niedrigangereicherten Brennstoff umgerüstet wird; die Genehmigung wurde später noch einmal bis 2018 verlängert. Das ist aber nicht geschehen. Seither, so sieht es zumindest der Bund Naturschutz in Bayern, läuft der FRM II illegalerweise.
Die Naturschützer haben ein entsprechendes Gutachten in Auftrag gegeben und im Mai 2020 schließlich Klage gegen den Weiterbetrieb des Reaktors eingereicht. Diese ist noch anhängig. Das bayerische Umweltministerium hat den Betrieb mit dem verwendeten Brennstoff hingegen für rechtmäßig befunden. Am FRM II selbst forscht eine Gruppe von Wissenschaftlern im Verbund mit internationalen Partnern an alternativen Brennstoffen; die Entwicklung ist allerdings noch nicht einsatzbereit, daher, argumentiert die TU, sei eine Umrüstung noch nicht erfolgt.
Für die Orte in der Nachbarschaft hat der Reaktor Licht- und Schattenseiten. Man sonnt sich gern im internationalen Ansehen, gleichzeitig ärgern sich viele etwa darüber, dass die TU schwach radioaktives Wasser aus dem Reaktor in die Isar ableiten darf. Für Garching war der Reaktorbau in jedem Fall zukunftsweisend. Als Keimzelle für den Forschungscampus der TU trieb das Atom-Ei, dessen Silhouette der Ort 1967 in sein Wappen aufgenommen hat, und später der FRM II Garchings Entwicklung vom Dorf zum Forschungs- und Wohnstandort voran, machte den knapp 20 000 Einwohner zählenden Ort 1997 sogar zur "Universitätsstadt".
Aktuell sprudelt die Forschungsneutronenquelle allerdings nicht: Seit 17. März 2020 steht der Reaktor still. Zunächst, weil die Corona-Pandemie den Wissenschaftsbetrieb lähmte; außerdem, weil Ende März radioaktiver Kohlenstoff in Form von Kohlenstoffdioxid aus dem Forschungsreaktor nach außen gedrungen ist und dabei ein festgelegter Jahresgrenzwert überschritten wurde. Zwar bestand nach Angaben der TU zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für Mensch, Tier oder Umwelt; es handelte sich jedoch um einen nachträglich als "Störung" eingeordneten Vorfall. Um einen solchen in Zukunft gänzlich auszuschließen, hat die TU zugesagt, ihre Wartungsmethoden sowie ihr internes Frühwarnsystem technisch wie kommunikativ zu überarbeiten. In naher Zukunft, so hoffen die Betreiber, wird der Forschungsreaktor unter diesen Umständen wieder anlaufen können.