So schnell konnte meine Kollegin gar nicht schauen, da hatte sich der Patient einfach den Tubus herausgerissen. Das geht nicht einfach so schwuppsdiwupps, dazu braucht es schon Gewalt. So ein Tubus sitzt ziemlich fest: Das Ende in der Luftröhre ist durch einen kleinen aufgepumpten Luftring blockiert. Der sorgt dafür, dass keine Bakterien durch den geöffneten Kehldeckel, für den der Tubus sorgt, gelangen können - denn das könnte für Entzündungen sorgen.
Zum Glück hat sich der Patient nicht verletzt. Das kann bei einer solch unkontrollierten Extubation schnell gehen, so könnte der Tubus mitten in der Luftröhre stecken bleiben. Dann kommt der Brechreiz und das Erbrochene gelangt in die Lunge - nach oben geht es schließlich nicht weiter. Von da aus ist es hin zum Ersticken nicht mehr weit.
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Alles in allem war der Patient ohne Tubus einigermaßen stabil, als ich ihn später in meiner Schicht versorgt habe. Jedoch wirkte er angespannt, als ob er nicht recht verstehen würde, was gerade vor sich geht.
Etwas später bat ich eine Kollegin, mir bei ihm beim Bettwäschewechsel zu helfen. Es war bereits das dritte Mal an diesem Tag, dass das bei ihm notwendig geworden war. Plötzlich bemerkte ich, dass sich etwas verändert hatte: Die Mimik des Mannes war verzogen. Der Blick stechend. Sein Gesichtsausdruck hatte auf einmal etwas, das ich nicht besser beschreiben kann als mit "böse Augen" - ich wusste sofort: Jetzt ist der Patient unberechenbar.
Meine Kollegin wollte gerade über den Kopf des Mannes greifen, da verzog er noch mehr das Gesicht, riss seinen Mund auf und versuchte sie zu beißen. Gerade noch rechtzeitig konnte sie ihren Arm zurückziehen, schon begann mein Patient, wie wild um sich zu schlagen. Mit ruhiger Stimme habe ich ihn gebeten, sich zu beruhigen. Nochmals erklärte ich ihm, was wir gerade tun und warum wir es taten. Das hatte ich zwar davor auch schon immer wieder getan, doch was sollte ich anderes tun? Vielleicht würde es ihn ja zumindest ein bisschen besänftigen. Das tat es leider nicht. Stattdessen begann er zu hyperventilieren.
Wir richteten ihn auf und gaben ihm ein Sedativum. Er musste sich schnellstmöglich beruhigen, um wieder atmen zu können. Gleichzeitig alarmierten wir die Ärzte. Doch der Mann bekam weiterhin zu schlecht Luft - er musste wieder intubiert werden.
Dass Patienten von einer Sekunde auf die nächste so aggressiv werden, passiert nicht oft, aber immer wieder. Zuvor war der Mann über viele Wochen hinweg sediert und beatmet gewesen. Bei einer Extubation können solche Patienten in ein Delir verfallen: Die lange Intubationszeit sorgt für eine Verwirrung, sie sind dann in einem ganz anderen Film - es wirkt wie eine Art Psychose. Keine Chance, in solch einem Moment an sie noch heranzukommen.
Weder meine Kollegin noch ich waren dem Mann böse. Er konnte schließlich aufgrund seines Zustands nicht verstehen, dass wir ihm etwas Gutes wollten.
Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 39-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind unter sueddeutsche.de/thema/Auf Station zu finden.